Beissreflexe einer Mailingliste

Kommentar von Florian Holzhauer

Unter Lernen versteht man den absichtlichen und den beiläufigen, individuellen oder kollektiven Erwerb von geistigen, körperlichen, sozialen Kenntnissen und Fertigkeiten. Aus lernpsychologischer Sicht wird Lernen als ein Prozess der relativ stabilen Veränderung des Verhaltens, Denkens oder Fühlens aufgrund von Erfahrung oder neu gewonnenen Einsichten und des Verständnisses aufgefasst.

(Wikipedia)

Mitleser in eher „IT-Nahen“ Medien dürften schon häufig Zeuge einiger kruder Rituale geworden sein: Ein Posting oder eine Mail zu einem eher kontroversem Thema erscheint, und innerhalb kürzester Zeit erscheinen die immer wieder gleichen Diskussionsstile. Der eine beschimpft den anderen als Troll, die Kompetenz, Intelligenz, Weitsicht oder Erfahrung des Gegenübers wird in Frage gestellt. Irgendwann wird dann ein Verstoss gegen krude innerhalb der Gruppe definierten Regeln festgehalten, und nach einiger weiterer inhaltsfreier Beschimpfung schläft die Diskussion ein. Sobald das nächste Mal das Thema aufkocht, werden die selben Diskussionsteilnehmer mit den gleichen Argumenten eine ähnlich gelagerte Auseinandersetzung beginnen, die auch ähnlich endet.
Im Laufe der Zeit ist ein Beobachter normalerweise in der Lage, schon vorab zu erraten, was welcher Debattant in seine Tastatur tippen wird. Wer sich unter diesen Diskussions-Stilen nichts vorstellen kann, dem sei an dieser Stelle das Heise-Forum empfohlen, Themen zu Betriebssystemen oder Programmiersprachen dürften besonders aussagekräftig sein.

So weit, so traurig, so normal. Interessant scheint hier, dass Menschen die sich vermutlich als eher intelligent bezeichnen würden, zumindest nach aussen hin nur minimales Lern- und Reflektionsvermögen zeigen – eine Studie, ob zur Inter-Nerd-Kommunikation ausschliesslich die Amygdala benutzt wird, steht leider noch aus.

Vor ziemlich genau drei Jahren hat sich in Berlin eine Partei gegründet, die gerne auch als Nerd-Partei bezeichnet wird. Sie selbst nennt sich die Piratenpartei Deutschland. Über deren Ziele, Probleme, Inhalte wurde und wird viel geschrieben und viel diskutiert – und eines fällt dabei deutlich auf: Die „Nerd-Partei“ macht in Sachen Lernfähigkeit ihrem Spitznamen alle Ehre. Statt Reflektion, vielleicht einmal dem Eingeständnis eines Fehlers, und produktiver Diskussion, wie man Fehler in Zukunft verhindern könne hagelt es Beissreflexe und Arroganz, oder, um es mit den Worten des Pressesprechers der Piratenpartei zu formulieren: „Wer zurückrudert, kann nur verlieren.“. Alternativ kann man natürlich auch den Kritikern mangelnden IQ unterstellen, und sie als Trolle beschimpfen. Mailinglisten-Grundregeln. Siehe oben.

Ob dieses Verhalten der Sache dienlich ist, ob es dafür sorgt, als Gesprächspartner ernst genommen zu werden, ob man so politische Kompetenz gewinnt? Sehr fraglich. Politik ist keine Mailingliste, und Beissreflexe helfen nicht. Krisenkommunikation, Diskussion auf Augenhöhe mit dem Gegenüber, Lernfähigkeit, Mut zur Einsicht – all das, was man auch von den etablierten Parteien gerne hätte.

Schaut man sich so zum Beispiel die alte Geschichte um Bodo Thiesen und die Piratenpartei an: Da steht eine Person auf einem Bundesparteitag der Piratenpartei zur Wahl für einen Posten innerhalb der Partei auf dem Podium, und aus dem Publikum wird erzählt, dass da ein „Skandal“ hochkochen würde, und wie diese Person zu dem Vorwurf des Geschichtsrevisionismus stehen würde. „Leugung des Holocaustes“, wie man kurz darauf erfährt. Und diese Person sagt nicht klar „Nein, mache ich nicht“, sondern stattdessen „wer glaubt, das ich das tue, soll mich anzeigen“. Bei jeder anderen ernstzunehmenden Partei wären hier alle roten Lampen angegangen. Bei den Piraten nicht. Der Epilog der Geschichte war dann jede Menge Medienschelte und ein Parteiausschluss. Dass so eine Geschichte passieren musste, ist ärgerlich, kann man aber durchaus mit mangelndem politischem Einfühlungsvermögen, Welpenschutz oder schlichter Naivität erklären.

Nun kocht diese Tage ein neues Thema hoch: Der Piraten-Vize Andreas Popp gibt einer Zeitung, die sich in eher rechtslastigen Gefilden des politischen Weltbildes bewegt, ein Interview. Offensichtlich, wie sich rausstellt, weil er nicht vorab geklärt hat, welche Zeitung das eigentlich ist. Auch das kann man erstmal unter Naivität verbuchen, auch wenn man in Presseschulungen eigentlich sehr früh lernt, dass man immer zuerst klären sollte, wer da mit einem reden will.

Aber nun kocht dieser Konflikt hoch, die ersten Medien berichten, eine sicherlich nicht komplett unparteiische taz-Autorin wirft der Partei etwa „mangelnde Distanz zum rechten Rand“ vor. Spätestens jetzt sollten einmal mehr alle roten Lampen gehen. Insbesondere, weil sich in den nächsten Stunden herausstellen wird, dass auch der Parteivorstand Jens Seipenbusch gegenüber der selben Zeitschrift einen „Fragebogen“ beantwortet hat – weil also dem Parteivorstand klar sein sollte, dass da noch mehr nachkommen wird. Stattdessen wird lediglich anerkannt, dass das Interview „nicht politisch klug im Sinne eines Politik-Marketing-Ansatzes“ gewesen sei.

Lernerfolg aus den bisherigen Desastern? Null. Im Chaos Computer Club, einer Institution ohne parteipolitischen Ambitionen, aber mit ähnlichem Nerd-Anteil und ähnlich skurrilen Mailinglisten, kochte vor einigen Jahren eine vergleichbare Diskussion. Eine Diskussion, die nicht nennenswert von Medienaufmerksamkeit begleitet wurde, sondern grösstenteils nur intern stattfand. Trotzdem resultierte diese Diskussion in die Bekanntgabe einer klar formulierten Unvereinbarkeitserklärung, die auf der offiziellen Seite deutlich kommuniziert wurde. In der Piratenpartei hingegen meint ein Pressesprecher: „Aber das Magazin sei ja nur rechtskonservativ, daran könne man nichts Schlimmes finden.“ – selbst andere eher Nerd-nahe Institutionen, siehe Beispiel CCC, können da die Krisenkommunikation besser.

Um noch einmal sinngemäss Wikipedia zu bemühen: „Lernen wird als ein Prozess der relativ stabilen Veränderung des Verhaltens, aufgrund von Erfahrung oder neu gewonnenen Einsichten und des Verständnisses aufgefasst.“ Eine Partei, die sich Wissensgesellschaft und Bildungspolitik auf die Fahnen schreibt, selbst aber offenkundig nicht lernfähig ist, sollte sich nicht beklagen, wenn sie als unwählbar bezeichnet wird.

Stattdessen sollte sie vielleicht versuchen, endlich dazu zu lernen, und von trainiertem Mailinglistenverhalten wegzukommen.