Wir schauen ihn an

Der Staatsanwalt vermeidet alles, was zu einer nicht durch den Zweck des Ermittlungsverfahrens bedingten Bloßstellung des Beschuldigten führen kann. Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (Ziff. 4a).

Wir schauen ihn an. Wir können gar nicht anders, denn der mutmaßliche Doppelmörder von Krailling ist überall zu sehen. Sein Foto ist auf den Titelseiten der Boulevardblätter, in den Onlinemedien, in Krawallshows des Fernsehens ebenso wie in seriösen Nachrichtensendungen.

Seit gestern hat der Verdächtige für die ganze Welt ein Gesicht. Die Bilder sind keineswegs aus den Ermittlungsakten geleakt. Die bayerische Justiz hat sie vielmehr von sich aus an die Medien gegeben. Die hierfür Verantwortlichen zeigen damit offene Verachtung für die Unschuldsvermutung und die Persönlichkeitsrechte, die auch ein Beschuldigter hat.

Aus dem von den Behörden gespeisten Polizeipresseportal sind, so weit ich das sehen kann, die Bilder mittlerweile verschwunden. Die Müncher Polizei verbreitet das Fahndungsplakat mit den Fotos des Beschuldigten aber nach wie vor als hochauflösendes PDF, obwohl sie in der Pressemitteilung hervorhebt, es handele sich um eine räumlich eng begrenzte Fahndung. Spöttisch könnte man anmerken, das ebenfalls abgebildete Auto hat offensichtlich mehr Rechte als der Beschuldigte. Das Nummernschild des Wagens hat die Polizei nämlich anonymisiert.

Wie logisch das auch immer sein mag, der Schaden ist nicht mehr gut zu machen. Das zeigt schon ein Blick in Google News. Die qualitative Scheidelinie im Journalismus scheint lediglich noch zu sein, ob die Bilder direkt übernommen werden oder ob nur das Fahndungsplakat gezeigt wird (auf dem aber die Fotos ebenfalls gut zu erkennen sind).

Man kann Polizei, Staatsanwältin und der Richterin, welche die “Fahndung” letztlich abgenickt hat, natürlich bösen Willen unterstellen. Vielleicht war es ihnen wirklich ein klammheimliches Vergnügen den Mann bloßzustellen, vorzuverurteilen, ein Beweisergebnis zu zementieren. Möglicherweise (ich meine sogar: wahrscheinlich) waren die Beteiligten aber auch schlicht naiv und haben nicht erwogen, dass ihre Aktion zu einer medialen Hinrichtung führen wird. Ihr Verhalten entschuldigt das allerdings nicht.

Offiziell, das darf man nicht vergessen, handelt es “nur” um eine räumlich eng begrenzte Plakataktion. Eintausend Flyer mit den Fotos des Beschuldigten und seines Autos durfte die Polizei im Bereich des Tatorts aufhängen und in Haushalten verteilen. Doch schon diese Öffentlichkeitsfahndung findet kaum eine Stütze im Gesetz. Die Strafprozessordnung kennt eigentlich nur den Fall, dass nach einem flüchtigen Verdächtigen gefahndet wird.

Wenn das Gesetz nicht passt, kann es natürlich passend gemacht werden. Juristen nennen das “entsprechende Anwendung” der Vorschriften. Hierüber kann man sicher diskutieren, aber wohl kaum über die Verhältnismäßigkeit. Zumindest in letzterem Punkt hat die bayerische Justiz krass versagt.

Krailling ist nicht gerade als Moloch bekannt. Die Polizei war in der Lage, mit Hundertschaften eine kilometerlange Strecke abzusuchen. Nun sieht sie sich aber anscheinend außerstande, durch klassische Polizeiarbeit rund um den Tatort alle in Frage kommenden Zeugen zu erreichen? Das heißt, an Türen klopfen oder anrufen, mit möglichen Zeugen reden und ihnen bei Bedarf auch jene Fotos zeigen, die nun uns allen bekannt sind.

Ganz Krailling soll traumatisiert sein. Nur die Polizei hält es offenbar für möglich, dass jemand mit Bezug zum Ort noch nichts von dem Doppelmord erfahren hat. Was erhofften sich die Behörden also von den Plakaten? Dass ein Kraillinger, den sie – hoffentlich -  ohnehin schon befragt haben, was er in der Tatnacht gemacht und vielleicht beobachtet hat, an der Bushaltestelle das Plakat liest und es ihm wie Schuppen von den Augen fällt?

So sehr ich mich bemühe, ich kann noch nicht einmal erkennen, dass die Plakataktion ein geeignetes Mittel war. Noch weniger ist sie erforderlich. Zumindest so lange die Polizei nicht belegt, dass sie mit konventioneller Arbeit nicht weitergekommen ist.

Dass man offensichtlich wenig über die Erforderlichkeit (zweite Stufe jeder Verhältnismäßigkeitsprüfung) nachgedacht hat, zeigt eine von der Süddeutschen zitierte Äußerung des Ermittlungsleiters. Dieser betont, die Täterschaft des Verdächtigen sei “sehr sicher”. Dann sagt er: “Wir versuchen alles, um das Bild abzurunden." 

Das klingt, als sei die Fahndung nur etwas Kolorit. Ein Spielchen am Rande. Selbst wenn die Motive tatsächlich ernster sein sollten (weil die Beweislage vielleicht doch nicht so gut ist), lässt das ernste Zweifel daran aufkommen, ob überhaupt jemand in der Entscheidungskette die Rechte des Beschuldigten auf die Waagschale gelegt hat.

Auch für diesen Verdächtigen gilt die Unschuldsvermutung. Nun kennt ihn Deutschland. Das macht ihm, unabhängig von einer späteren Verurteilung oder einem Freispruch, sein weiteres Leben schon jetzt kaputt. Das gilt übrigens auch für seine aktuelle Situation in der Untersuchungshaft. Auch dort wird Zeitung gelesen…

Der Beschuldigte hat trotz des Tatverdachts auch seine Persönlichkeitsrechte nicht abgegeben. Diese werden schon durch die Plakaktion mit Füßen getreten. Letztlich aber auf mir bislang kaum vorstellbare Weise durch die zumindest grob fahrlässige Weitergabe des Materials an alle Medien, und das sogar noch ohne nennenswerten Versuch, die Verwendung durch Sperrhinweise zu reglementieren.

Dabei würde es doch schon reichen, wenn sich Polizei und Justiz an die Vorschriften halten. Die wichtigste in diesem Zusammenhang steht am Anfang dieses Beitrags. Sie sollte zumindest künftig nicht in Vergessenheit geraten.

Im Fall Krailling ist alles zu spät.