Die Glucke

Nach dem harten Urteil ist oft vor dem Anwaltswechsel. Ist ja auch klar, wenn die Sache aus Sicht des Mandanten in die Hose gegangen ist. Allerdings überrascht es mich immer wieder, auf welch wackeliger Basis Angeklagte mitunter die Leistungen ihres bisherigen Verteidigers beurteilen – sie kennen nämlich nicht mal die Ermittlungs- und Gerichtsakte.

Kaum einer kauft sich ein Smartphone oder gar ein Auto, ohne vorher ein paar Prospekte oder Tests zu lesen. Aber wenn eine Verurteilung im Raum steht, sind Mandanten mitunter überraschend genügsam. So suchte mich vor kurzem ein Mann auf, der zwei Jahre Haft kassiert hatte, wenn auch zur Bewährung. Er wollte eine “zweite Meinung” zu der Frage hören, ob eine Berufung aussichtsreich ist.

Das ist, wie gesagt, nicht ungewöhnlich. Zum Spiel gehört auch, dass der Betroffene seine bisherigen Anwälte erst mal nicht grundlos verschrecken will, indem er einen weiteren Verteidiger ins Boot nimmt. Deshalb läuft es dann meist auf eine diskrete Beratung hinaus. Die endet bei mir durchaus auch so, dass ich dem Mandanten nahelege, bei seinem bisherigen Verteidiger zu bleiben. Weil der nach meiner Meinung gut gearbeitet hat.

Das mit der Diskretion geht allerdings nur, wenn der Mandant über die Ermittlungsakte verfügt. Ansonsten muss ich die Akte nämlich beim Gericht anfordern. Das betreffende Schreiben sieht dann natürlich auch der bisherige Verteidiger. Manche nehmen das gleich persönlich, was dann meist auf dem Rücken des Mandanten abgeladen wird.

Ich fragte den Mandanten also nach einer Kopie der Ermittlungsakte. “Die kenne ich nicht”, sagte er. “Sollte ich?” Es stellte sich heraus, dass ihm sein Verteidiger bislang zwar in längeren Besprechungen einiges erzählt hat. Die Gerichtsakte hatte er jedoch nicht aus der Hand gegeben. Und der Mandant hat sich nicht zu fragen getraut, ob er eine Kopie kriegen kann.

Daneben bin ich auch schon Anwälten begegnet, die ihren Auftraggebern die Akte offensiv verweigern. Sie dürften die Unterlagen nicht rausgeben, heißt es dann. Die Begründungen sind unterschiedlich. Aber alle stehen sie nicht auf dem Boden der Rechtslage.

Die ist nämlich eindeutig, und zwar von der Strafprozessordnung bis hinunter zum Standesrecht. Ein Verteidiger darf seinem Mandanten alle Unterlagen geben, die er von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht erhalten hat. Der Anwalt hat nicht das Recht, seinem Mandanten irgendwelche Papiere vorzuenthalten, die er in seinem Auftrag erhalten hat.

In ganz wenigen Fällen untersagt die Staatsanwaltschaft oder das Gericht die Weitergabe an den Mandanten, zum Beispiel weil möglicherweise Dritte gefährdet werden. Aber das kommt wirklich nur ganz selten vor. Auch hier muss man sich als Anwalt dann fragen, ob so ein Verbot gerechtfertigt ist. Das ist eine Frage des Einzelfalls.

Es ist also schon grenzwertig, wenn Anwälte ihren Mandanten die Ermittlungsakte nicht von sich aus anbieten. Wenn der Mandant das dann ablehnt, weil er die Kopierkosten scheut oder Unterlagen nicht zu Hause haben will, ist das natürlich seine Entscheidung.

Was allerdings gar nicht geht, ist die Vorenthaltung der Akte unter fadenscheinigen Gründen. Auch wenn einem als Anwalt vielleicht daran gelegen ist, eventuelle Deutungshoheit durch einen Wissensvorsprung zu erhalten, rechtfertigt das keine Irreführung des Mandanten.

Im erwähnten Fall muss nun der Auftraggeber entscheiden, wie er an die Ermittlungakte kommt. Ich bin gespannt, wie der betreffende Kollege reagiert. Nicht dass er sich am Ende noch des Mandats beraubt, bloß weil er wie eine Glucke auf den Papieren sitzenbleibt.