“Winkeladvokat” muss keine Beleidigung sein

Die allgemeinen Höflichkeitsformen erfordern es nicht, überspitzte Äußerungen von der Meinungsfreiheit auszuschließen. So kann es zum Beispiel gestattet sein, einen Rechtsanwalt als “Winkeladvokaten” zu titulieren. Darin liegt nicht unbedingt eine unzulässige Schmähkritik, befindet das Bundesverfassungsgericht. Es hob Urteile der unteren Instanzen auf, mit denen einem Anwalt verboten worden war, seinen Kollegen künftig als Winkeladvokaten zu titulieren.

Bloße “Unnötigkeiten” oder “Unhöflichkeiten” reichen nach Auffassung des Gerichts nicht aus, um kritische Äußerungen zu untersagen, auch wenn diese die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen verletzen. Die Grenze zur unzulässigen Schmähkritik sei erst erreicht, wenn die Kränkung überhaupt nichts mehr mit der Sache zu tun hat und es nur darum geht, den anderen herabzusetzen. Das war im Ausgangsfall jedoch nicht so, denn die Äußerungen fielen in Schreiben an die Rechtsanwaltskammer. In dem Verfahren ging es gerade um die Frage, ob sich die betroffenen Anwälte korrekt verhalten.

Die Vorinstanzen müssen nun neu abwägen, ob die Titulierung als Winkeladvokat wirklich so gravierend ist. Die Verfassungsrichter scheinen eher nicht davon auszugehen. Sie geben unter anderem den ausdrücklichen Hinweis, der angebliche Winkeladvokat sei nur beruflich angesprochen gewesen. Das betreffe nur die Sozialsphäre eines Menschen. Diese genieße  aber nur eingeschränkten Schutz, jedenfalls im Vergleich zu Privat- oder gar Intimsphäre (Beschluss vom 2. Juli 2013, Aktenzeichen 1 BvR 1751/12).

In einer weiteren interessanten Entscheidung hebt das Verfassungsgericht das Urteil gegen Mitarbeiter einer Flüchtlingsorganisation auf. Die Betroffenen waren verurteilt worden, weil sie einer Sachbearbeiterin im Ausländeramt einen öffentlichen „Denkzettel für strukturellen und systeminternen Rassismus“ verlieh. Dabei kritisierten die Helfer, die Mitarbeiterin habe bewusst Fakten ignoriert, um eine Aufenthaltserlaubnis ablehnen zu können.

Die Behauptungen waren wohl unrichtig, jedoch reicht das nach Auffassung des Gerichts noch nicht, um üble Nachrede oder Verleumdung zu bejahen. Die öffentliche Verwaltung müsse mehr Kritik ertragen als andere. Aus der Begründung:

Es ist zu berücksichtigen, dass das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, zum Kernbereich der Meinungsfreiheit gehört und bei der Abwägung besonders zu berücksichtigen ist.

Die Geldstrafen gegen die Betroffenen wurden deshalb aufgehoben (Beschluss 24. Juli 2013, Aktenzeichen 1 BvR 444/13, 1 BvR 527/13).