Immer erst von hinten lesen

Wenn ich Behördenakten lese, fange ich immer hinten an. Kann ja sein, dass sich seit Beginn des Verfahrens schon was Relevantes ereignet hat. Es wäre übel, nach anderthalb Stunden Lektüre festzustellen, dass der Staatsanwalt das Verfahren schon von sich aus eingestellt hat. Zum Beispiel mangels Tatverdachts.

Außerdem lehrt die Erfahrung, dass mit zunehmender Dicke der Akten die Zahl der Zusammenfassungen steigt. Das können Ermittlungsberichte sein. Oder Aktenvermerke des Staatsanwalts. Oder auch ein Gutachten. Wenn man das schon mal kennt, fällt es natürlich leichter, später Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.

Allerdings ist es manchmal auch ganz sinnvoll, gleich an den Anfang einer Akte zu springen. Was ich heute gemacht habe, als ich las, dass eine Bußgeldbehörde gegen einen Mandanten Erzwingungshaft beantragt hat. Der Gute, nennen wir ihn Willi Müller, soll ein Bußgeld von 4.000 Euro nicht bezahlt haben. Die Geldbuße war durch einen Bußgeldbescheid festgesetzt worden.

Der Bußgeldbescheid auf Seite 1 der Akte lautete aber gar nicht auf Willi Müller. Er war vielmehr gerichtet an „Willi Müller Landschaftsbau GmbH“. Auch im Vorfeld hatte die Bußgeldbehörde Post immer nur an die Willi Müller Landschaftsbau GmbH geschickt. Zugestellt wurde der Bußgeldbescheid auch an der Firmenadresse der Willi Müller Landschaftsbau GmbH.

Die Firma gab es tatsächlich mal. Mein Mandant war auch Geschäftsführer. Allerdings führt ein Bußgeldbescheid gegen eine GmbH keineswegs automatisch zu einer Haftung des Geschäftsführers. Wenn der Geschäftsführer selbst in Anspruch genommen werden soll, muss das eindeutig erkennbar sein. Zum Beispiel, in dem er selbst angehört wird. Und indem sich der Bußgeldbescheid auch erkennbar gegen ihn persönlich richtet.

Kurz gesagt: Gegen meinen Mandanten persönlich ist nie ein Bußgelbescheid ergangen. Dementsprechend gibt es auch keine Grundlage für eine Vollstreckung gegen ihn. Interessant ist nur, dass dies bei der Bußgeldbehörde über die Jahre niemandem aufgefallen ist. Das mag daran liegen, dass ein Abteilungsleiter mal handschriftlich vermerkt hat: „Geschäftsführer = Zahlungspflichtiger“. Aber durch einen Federstrich lässt sich ein Bußgeldbescheid nicht reparieren, selbst wenn man ein hohes Tier im städtischen Rechtsamt ist.

Allerdings ist es durchaus spannend, ob das Amtsgericht meiner Argumentation folgt. Immerhin konnte ich meinen Ausführungen Kopien einiger Urteile beilegen, die in solchen Fällen deutlich zwischen der Firmenhaftung und der Geschäftsführerhaftung unterscheiden. Dass ich die Urteile immer gleich als Kopie beifüge, ist übrigens auch so eine Erfahrungsgeschichte wie das Von-hinten-Lesen.

Es ist nämlich keineswegs ausgemacht, dass Richter bloß wegen einiger Rechtsprechungszitate gleich aufgeregt in die Bibliothek laufen. Oder, neumodisch, in der Juris-Datenbank nachsehen. Aufs Papier werfen sie schon eher einen Blick. Und oft bleibt der an der richtigen Stelle hängen…