Kommt Zeit, kommt Rat

Es ist einer der wichtigsten Ratschläge, die ein Strafverteidiger seinem Mandanten geben kann: Wenn gegen dich ermittelt wird, solltest du es trotzdem nie eilig haben – auch wenn die mit einem Verfahren verbundene Ungewissheit sicherlich niemals angenehm ist.

Aber auf der anderen Seite heißt es nun mal ebenso platt wie wahr: Kommt Zeit, kommt Rat. Schlimmer wird’s durch den Zeitablauf praktisch nie, sondern immer nur besser. Eine Erkenntnis, die nun auch der Bundesgerichtshof mal wieder in prägnante Worte gefasst hat. So heißt es in einem aktuellen Beschluss:

Kommt es bei einem Strafverfahren zu einem großen Abstand zwischen Tat und Urteil, kann dies bei der Bestimmung der Rechtsfolgen unter drei verschiedenen Aspekten von Belang sein.

Zum einen kann der betreffende Zeitraum bereits für sich genommen ins Gewicht fallen.

Unabhängig hiervon kann zum zweiten einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige Bedeutung zukommen, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind.

Zum dritten kann sich schließlich eine darüber hinausgehende rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu Gunsten des Angeklagten auswirken (Aktenzeichen 1 StR 359/17).

Und überdies ist es natürlich so, dass bei Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten ja immer neue Fälle dazu kommen. Was vor einiger Zeit noch als superwichtiger Fall durchging, entwickelt sich so schnell zur Altlast. Wer hier letztlich beim Abräumen hilft, kann sich nicht selten einen schönen Rabatt verdienen.

Das Strafverfahren ist also nie der richtige Ort für Hektik – wenn man der Beschuldigte oder Angeklagte ist.

Human ist anders

Erhebliches juristisches Durchhaltevermögen benötigte eine 73-jährige Frau aus Uelzen, die von der Krankenkasse wegen ihrer Sehbehinderung einen Blindenhund genehmigt haben wollte, obwohl sie auf einen Rollator angewiesen ist.

Die Krankenkasse hielt den Blindenhund für unwirtschaftlich, außerdem bestritt sie die persönliche Eignung der Frau, die auch an Multipler Sklerose leidet. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hatte dafür wenig Verständnis. Immerhin hatten vier Gutachter festgestellt, dass die Frau mit einem speziell trainierten Hund erheblich leichter zurechtkommen würde als mit einem Langstock.

Weil die Krankenkasse trotzdem nicht nachgab, überzeugten sich die Richter auf dem Gerichtsflur selbst davon, wie gut die Klägerin noch gehen kann. Hierbei wurde deutlich, dass die Frau die nötige „Grundkonstitution“ hat.

In ihrem Urteil sahen sich die Richter auch veranlasst, die Krankenkasse an ihrer Pflicht zur humanen Krankenbehandlung zu erinnern. Die Kasse hatte im Vorfeld des Gerichtstermins bei der Hundeschule angerufen und versucht, diese von der körperlichen Ungeeignetheit der Klägerin zu überzeugen. Dies, so das Gericht, sei ein mehr als fragwürdiger Versuch, die Realisierung eines Leistungsanspruchs zu behindern (Aktenzeichen L 16/1 KR 371/15).

Die Sache mit den Flaggen

Für ziemlich großes Aufsehen sorgten in den letzten Tagen Demonstranten, die vornehmlich in Berlin die Fahne des Staates Israel verbrannten. Die Aktionen waren Teil der Proteste gegen die Entscheidung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt hatte.

Die Polizei nahm fleißig Anzeigen wegen der brennenden Flaggen auf, Politiker zeigten sich empört – strafrechtliche Folgen wird das Abfackeln selbst aber voraussichtlich nicht haben.

Es ist nicht strafbar.

§ 104 StGB stellt zwar die Verletzung von Flaggen und Hoheitszeichen anderer Staaten unter Strafe. Das gilt aber nur für Symbole, die dem betreffenden Staat bzw. dessen Sympathisanten auch gehören. Wer also eine Flagge von einer Botschaft oder einem Konsulat entwendet, sie beschädigt, verbrennt oder sonstigen „beschimpfenden Unfug“ an ihr verübt, macht sich strafbar.

Wer aber eine ausländische Flagge in einem Souvenirgeschäft kauft oder sie bei Amazon bestellt, darf diese auch verbrennen. Nicht nur, weil sie sein Eigentum ist. Sondern eben auch, weil der erwähnte § 104 StGB nicht für Symbole gilt, die dem Staat nicht direkt zugerechnet werden können.

Bei der deutschen Flagge sieht es übrigens anders aus. Der § 90a StGB („Verunglimpfen des Staates und seiner Symbole“) ist deutlich weiter gefasst. Da reicht schon die Verunglimpfung der Flagge aus, gleich wem sie gehört.

Handsignierte „Juristen“ zu gewinnen

Wer noch ein Weihnachtsgeschenk für einen Juristen (oder auch einen bekehrungswürdigen Juristen-Hasser) sucht, sollte unbedingt weiterlesen. Rechtzeitig zur heißen Phase der Vorweihnachtszeit startet heute noch mal eine kleine Verlosung im law blog. Diesmal sind zehn aktuelle Bücher des Cartoonisten Tim Oliver Feicke zu gewinnen.

Im Band „Juristen“ nimmt Tim Oliver Feicke den Berufsstand pointiert aufs Korn. Dafür ist er auch hoch qualifiziert. Tagsüber arbeitet Feicke nämlich selbst als Richter in Schleswig-Holstein. Er veröffentlicht seine Cartoons in Tageszeitungen und Anthologien sowie im Eulenspiegel. Seine Juristencartoons erscheinen monatlich in den Fachblättern Deutsche Richterzeitung und RENOPraxis.

Jeden der zehn Bände, die es zu gewinnen gibt, hat der Autor handsigniert. Wer mitmachen möchte, schreibt bitte bis zum 14. Dezember einen Kommentar zu diesem Beitrag. Die Gewinner werden ausgelost und erhalten das Buch noch vor Weihnachten zugeschickt, gerne auch an eine Wunschadresse. Bei der Teilnahme bitte eine gültige E-Mail-Adresse angeben, da die Gewinner nur über die E-Mail-Adresse kontaktiert werden.

Wer sich nicht auf sein Glück verlassen könnte, kann „Juristen“ auch einfach bei Amazon (Direktlink) oder über den Buchhandel bestellen. Das Buch kostet 9,99 Euro.

Es gibt auch noch weitere Cartoon-Bände von Tim Oliver Feicke. Näheres auf seiner Homepage.

Der Cartoonist und das law blog bedanken sich beim Lappan Verlag, der die zehn Bände spendiert.

Gesunde Füße, eine lange Zeit

Aus einer Strafanzeige der Polizei:

Die bislang unbekannten Täter hebelten in den Nachtstunden zum 01.12.2017 den Lagerzugang zur Firma P. auf. Es handelt sich um einen Vertrieb für Pharma- und Drogerieartikel. Wegen krankheitsbedingt derzeit geringer Lagerbestände wurden nach Sichtung durch den Geschäftsführer P. folgende Gegenstände entwendet:

– ca. 2.050 Topfschwämme der Firma „aqualine“ (je 3 Stück, bunte Sortierung)

– ca. 1.300 Packungen Hühneraugenpflaster (Produktnummern etc. werden nachgereicht).

Ihr wisst also Bescheid, sofern euch jemand auf der Straße ein unwiderstehliches Angebot macht.

Anwälte dürfen auch mal auf Tische steigen

Der Koblenzer Mammutprozess gegen mutmaßliche Rechtsradikale vom „Aktionsbüro Mittelrhein“ muss fortgesetzt werden. Nach fast fünf Jahren Prozessdauer und 337 Verhandlungstagen hatte die Staatsschutzkammer des Landgerichts im Mai das Verfahren eingestellt, weil der Vorsitzende Richter in Rente ging und ein Ersatzrichter nicht zur Verfügung stand. Das Oberlandesgericht Koblenz sieht jedoch keinen Grund, dass der Prozess gegen ursprünglich 26, zuletzt 17 Angeklagte einfach so endet. Das Verfahren sei vor einer anderen Strafkammer fortzusetzen, ordnen die Richter in einem heute bekanntgegebenen Beschluss an.

Die Koblenzer Staatschutzkammer hatte die endgültige Einstellung vorrangig mit „überlanger Verfahrensdauer“ begründet. Verbunden damit waren schwere Vorwürfe gegen die Verteidiger. Diese hätten das Gericht mit 500 Befangenheitsanträgen, mehr als 240 Beweisanträgen und 400 Anträgen zum Verfahrensablauf bombardiert. Die Richter am Oberlandesgericht Koblenz sehen darin jedoch kein Fehlverhalten. Es gehöre zu den Rechten von Angeklagten und Verteidigern, „strafprozessuale Rechte besonders häufig oder in großem Umfang in Anspruch zu nehmen“. Die anwaltliche Berufsausübung unterliege grundsätzlich „der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen“.

Insoweit attestiert das Gericht der Staatschutzkammer einen grundsätzlichen Denkfehler. Eine überlange Verfahrensdauer könne nur dann zu einer Einstellung des Verfahrens führen, wenn der Zeitverlust auf Versäumnissen der Justiz beruhe, etwa bei schleppenden Ermittlungen, vertrödeltem Verhandlungsbeginn und zu wenigen Verhandlungstagen in der Woche. Hier sei die monierte Verzögerung aber durch die legitime Verteidigungsstrategie der Angeklagten entstanden und somit nicht im Einflussbereich der Justiz.

Das Landgericht hatte auch moniert, dass einige Verteidiger mitunter skurrile Auftritte hinlegten. So bestieg ein Anwalt einmal einen Tisch, um von dort aus zu sprechen. Abgesehen davon, dass sich die zeitliche Verzögerung hieraus in Grenzen gehalten hat, erlaubt der „Kampf ums Recht“ nach Meinung des OLG Koblenz einem Verteidiger nicht nur die Benutzung starker, eindringlicher Ausdrücke, sondern auch ein Verhalten, das von anderen Verfahrensbeteiligten als stilwidrig, ungehörig oder als Verstoß gegen den „guten Ton“ und das Takt- und Anstandsgefühl empfunden werde.

Es sei auch kein Versäumnis der Justizbehörden, dass der Vorsitzende Richter die Altersgrenze erreicht habe. Das Rentenalter sei in Rheinland-Pfalz gesetzlich geregelt und somit bindend. Während ich den vorstehenden Begründungen als Anwalt wenig überraschend zustimme, ist die Argumentation des Oberlandesgerichts in diesem Punkt doch dürftig.

Zu Beginn des Verfahren im Jahre 2012 war schon abzusehen, dass der Prozess mit 26 Angeklagten und 52 Verteidigern sowie einer mehr als tausendseitigen Anklageschrift Jahre dauern würde. Es wurde aber nur ein Ersatzrichter hinzugezogen, und das, obwohl der Vorsitzende Richter gar nicht der erste Rentenanwärter war. Vielmehr ging schon ein beisitzender Richter knapp zwei Jahre nach Prozessbeginn in den Ruhestand. Der einzige Ersatzrichter war also schon frühzeitig fest „verplant“.

Es wäre also von vornherein erforderlich gewesen, zumindest zwei Ersatzrichter einzusetzen, zumal Richter ja nicht nur in Rente gehen, sondern auch mal erkranken oder gar sterben können. Genau darin ist nach meiner Meinung ein greifbares Versäumnis der Justiz zu sehen. Die mangelhafte Prozessplanung führt aber nun dazu, dass fünf Jahre lang ohne Ergebnis verhandelt wurde, obwohl sich die Beweisaufnahme in dem Verfahren an sich dem Ende zuneigte. Man könnte darin also schon einen Verstoß gegen den Anspruch jedes Beschuldigten auf ein zügiges Verfahren sehen.

Es wird sicher interessant, wie das nun zuständige Gericht das Verfahren angeht. Dass die Ehrenrunde so umfangreich ausfällt wie der erste Durchlauf, ist insbesondere auch dem Steuerzahler nicht zu wünschen. 20 bis 25 Millionen Euro dürfte das Verfahren schon bisher gekostet haben. Ein Aberwitz vor dem Hintergrund, dass den Angeklagten fast durchgehend nur kleinere Straftaten zur Last gelegt werden, über die normalerweise das Amtsgericht an einem Verhandlungstag entscheiden würde.

Grotesk aufgeblasen wurde das Verfahren letztlich nur, weil interessierte Kreise im Aktionsbüro Mittelrhein partout eine kriminelle Vereinigung sehen wollten. Das war nach meiner Meinung weniger der Faktenlage geschuldet, sondern mehr dem Umstand, dass die Innenbehörden des Bundes und der Länder im Jahr 2012 dringend Fahndungserfolge präsentieren wollten – um vom eigenen Versagen im NSU-Komplex abzulenken (Aktenzeichen 2 Ws 406 – 419/17).

Freiheit gegen Geld?

Von mit gibt es mal wieder eine neue ARAG-Kolumne. Diesmal zum Thema „Freiheit gegen Geld“. In dem Beitrag erkläre ich, wie das mit der Strafkaution in Deutschland funktioniert und warum diese bei uns eher ein juristisches Schattendasein führt. Auch die Situation bei Auslandsreisen wird beleuchtet.

Viel Spaß beim Lesen.

Stromrechnung schließt Nachforderungen nicht aus

Die Endabrechnung eines Stromanbieters schließt Nachforderungen nicht aus. Dies hat das Amtsgericht München entschieden.

In dem Fall hatte der Energielieferant für ein knappes Jahr eine Schlussrechnung von 12,85 Euro zugesandt (nach Verrechnung der Abschlagszahlungen). Diese Rechnung enthielt keinen Vorbehalt. Später teilte der Kunde dem Unternehmen selbst einen viel höheren Zählerstand mit. Es ergab sich eine Nachforderung von knapp 868,50 Euro, die der Anbieter zwei Jahre und zwei Monate nach der ersten Rechnung geltend machte.

Der Stromkunde stellte sich auf den Standpunkt, er müsse nicht zahlen. Anders das Amtsgericht: Eine Rechnung sei eine „Willenserklärung ohne rechtsgeschäftlichen Erklärungswert“. Die Rechnung könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass der Lieferant auf Nachforderungen verzichtet, wenn sich Fehler in der Rechnung ergäben.

Der Anspruch sei auch nicht nach § 242 BGB (Treu und Glauben) verwirkt. Der Zeitraum von etwas mehr als zwei Jahren sei noch nicht so erheblich, dass ein Kunde nicht mehr mit Nachforderungen rechnen müsse. Innerhalb der üblichen Verjährungsfrist von drei Jahren müsse jeder Schuldner damit rechnen, dass er noch in Anspruch genommen wird. Auch habe der Anbieter nicht von sich aus den Eindruck erweckt, dass jede Nachforderung ausgeschlossen ist (Aktenzeichen 264 C 3597/17).

Zu schnell abgeschleppt

Wenn ein noch angemeldetes, aber von Amts wegen stillgelegtes Fahrzeug abgeschleppt werden soll, dürfen Kommunen in NRW es nicht bei einem roten Zettel an der Windschutzscheibe belassen. Das Oberverwaltungsgericht Münster kassiert mit einer Entscheidung die Düsseldorfer Praxis, dem Halter das Abschleppen nur mit einem Aufkleber anzudrohen.

Geklagt hatte ein Mann, der 175 Euro bezahlen sollte, weil sein zwangsabgemeldetes Fahrzeug in Düsseldorf noch am Straßenrand stand. Die Polizei hatte die Kennzeichen entwertet und die Stadt informiert, die dem Halter mittels des Zettels eine mehrtägige Frist setzte, um sein Auto zu entfernen.

Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Münster lagen die Voraussetzungen für einen „Sofortvollzug“ nicht vor. Der Sofortvollzug sei nur in gesetzlichen Fällen außergewöhnlicher Dringlichkeit zulässig. Dass die Stadt alle zwangsabgemeldeten Fahrzeuge in der Form abschleppen lasse, verkehre das Regel-Ausnahme-Prinzip in sein Gegenteil. Es gebe insbesondere auch keine Vermutung, dass der Autobesitzer nicht gehandelt hätte, wenn er von der Androhung gewusst hätte.

An dem Auto waren wie gesagt noch die Schilder. Der Stadt wäre es also möglich gewesen, den Halter problemlos zu ermitteln und ihn anzuschreiben, so das Gericht. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hatte in der Sache vorher schon ebenso entschieden (Aktenzeichen 5 A 1467/16).