Demokratie: minus 18 Prozentpunkte

Das sind Zahlen, die mich schon etwas schockieren. Sie stammen aus der neuen ARD-Akzeptanzstudie:

„… wurden auch Fragen zum gesellschaftlichen Umfeld gestellt. Danach ist die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland deutlich auf 54% gesunken. Das entspricht im Bundesdurchschnitt einem Minus von 18 Prozentpunkten. In Ost- und Westdeutschland gibt es dabei deutliche Unterschiede: Im Osten Deutschlands sind nur 33% mit der Demokratie zufrieden (-22 Prozentpunkte) im Westen beträgt die Zufriedenheit 58%, (-17 Prozentpunkte).“

Noch dazu folgendes Ergebnis:

„Die ARD erreicht aber auch die Menschen, die mit der Demokratie nicht zufrieden sind: 71% dieser Menschen nutzen täglich die Angebote der ARD, die Reichweite des Medienverbunds mit aktueller politischer Information liegt hier bei 60%.“

Besonders segensreich scheint die hohe ARD-Reichweite ja nicht (mehr) zu sein. Woran mag das wohl liegen…

„Nicht geimpft“: Gericht sieht keine Volksverhetzung

„Nicht geimpft“ wäre als Aussage in einem Facebook-Post von der Meinungsfreiheit umfasst. Zumindest nach meiner Kenntnis. Aber wie sieht es aus, wenn der Ausspruch auf einem sechseckigen gelben Stern steht? Ist das Volksverhetzung? Diese Frage musste das Oberlandesgericht Braunschweig beantworten.

Nicht jede moralisch fragwürdige Aussage ist eine Volksverhetzung, so das Gericht. Vielmehr müsse sich die nach § 130 StGB strafbare Verharmlosung der NS-Taten nauf eine konkrete Völkermordhandlung beziehen. Die mit dem Judenstern bezweckte Ausgrenzung sei eine Art Vorbereitungshandlung für die Vernichtung gewesen. Mit der eigentlichen Tathandlung dürfe sie jedoch nicht gleichgesetzt werden.

Nun ja, das kann man auch anders sehen. Allerdings führt das Gericht einen wichtigen Punkt an, der bei Volksverhetzung oft nur nachlässsig behandelt wird. Die Aussage muss immer geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. Es muss also Ziel sein, Dritte zu Gewalttaten oder Rechtsbrüchen zu bewegen. Dieses Motiv, so das Gericht völlig zu Recht, sei dem Facebook-Post erkennbar nicht zu entnehmen. Freispruch.

Aktenzeichen 1 ORs 10/23

Täter verweigert Fußfessel – und nun?

Wie kann es sein, dass ein mehrfach verurteilter Straftäter die elektronische Fußfessel einfach verweigert – und trotzdem frei herumläuft? Das ist eine Frage, die sich aus dem aktuellen Missbrauchsfall in Edenkoben ergibt. Versuch einer Antwort.

Wenn Straftäter ihre Haft verbüßt haben, kommen sie raus. Bei schweren Straftaten oder hartnäckigen Wiederholungstätern gibt das Gesetz dem Strafgericht die Möglichkeit, den Verurteilten weiterhin zu kontrollieren. Das nennt sich Führungsaufsicht. Das Gericht kann aus einem bunten Strauß von Auflagen wählen. Typisch für Sexualstraftäter sind der Besuch von Präventionsprogrammen, Aufenthaltsverbote an Kindergärten und Schulen, Kontakt- und Fahrverbote.

Auch die elektronische Fußfessel kann angeordnet werden. Die Betonung liegt auf „kann“. Denn obwohl die elektronische Fußfessel vor 12 Jahren ihren Weg ins Strafgesetz gefunden hat, ist sie alles andere als eine Standardmaßnahme. Tatsächlich mussten im Jahr 2020 ganze 122 Verurteilte eine elektronische Fußfessel tragen – bundesweit! Bayerische Gerichte hatten 30 Fußfesseln angeordnet, im bevölkerungsreichsten Land NRW waren es gerade mal sieben.

Aktuellere Zahlen kann ich nicht finden, weil Justiz ist ja Ländersache. Nach meinem Eindruck steigen die Zahlen, aber sicher nicht sprunghaft. Im Verhältnis zur Zahl der Personen, die sich nach ihrer Haftentlassung für eine Fußfessel qualifizieren, ist die Zahl der tatsächlichen Fußfesselträger sicherlich auch heute noch vernachlässigenswert gering.

Im Fall Edenkoben muss man den Behörden somit anrechnen, dass sie den Verdächtigen zu einer Fußfessel verdonnert haben. Das ist weder vorgeschrieben noch die Regel. Anders gesagt: Die Behörden haben erst mal nichts falsch gemacht.

Auf Unverständnis stößt natürlich, dass der Verdächtige die gerichtlich verordnete Fußfessel schlicht verweigert hat und er trotzdem nicht einkassiert wurde. Die Ohnmacht der Behörden in diesem Fall hat seine Ursache in der Art und Weise, wie der Gesetzgeber Verstöße gegen Auflagen bei der Führungsaufsicht sanktioniert.

Wer die Fußfessel verweigert, kann nicht zum Anlegen gezwungen werden. Vielmehr macht sich der Betreffende erneut strafbar (§ 145a StGB). Den Behörden bleibt in diesem Fall nur, ein neues Ermittlungsverfahren einzuleiten. Das alles kostet bekanntlich Zeit.

Natürlich könnte man bei einer beharrlichen Verweigerung der Fußfessel auch mal an Wiederholungsgefahr denken. Aber die Voraussetzungen für einen Haftbefehl auf dieser Grundlage sind kompliziert, auch weil ein Gericht die Verhältnismäßigkeit im Auge behalten muss. Die Höchststrafe für einen Verstoß gegen Auflagen im Rahmen der Führungsaufsicht beträgt drei Jahre Gefängnis. Das ist halt normalerweise keine Maximalstrafe, die automatisch einen Haftbefehl rechtfertigt.

Die Ereignisse in Edenkoben zeigen auf jeden Fall die greifbare Ohnmacht der Behörden, wenn sich ein Verurteilter der Fußfessel kategorisch verweigert. Aber man muss auch sehen, dass die Fußfessel auch bei entlassenen Sexualstraftätern heute nicht die Regel ist. Ohne entsprechende Auflage hätte wahrscheinlich kaum jemand danach gefragt, wieso der Verurteilte keine Fußfesselauflage hat. Das Resultat bleibt aber so oder so schrecklich genug.

Bericht auf SWR aktuell

Mit besten Wünschen für die Zukunft

Die heftigsten Streitigkeiten gibt es oft erst nach Ende des Arbeitsverhältnisses – ums Arbeitszeugnis. Eine ehemalige Assistentin der Geschäftsführung war besonders hartnäckig. Sie setzte mehrere Änderungen am Zeugnis durch. Erfolgreich. Aber damit begann der Stress erst…

Nachdem er das Zeugnis auf Druck mehrfach verbessert hatte, platzte dem Chef der Kragen. Aus der letzten Fassung strich er die Dankesformel. Wogegen seine frühere Angestellte vor Gericht zog.

Laut Bundesarbeitsgericht gibt es kein Recht auf gute Wünsche vom Arbeitgeber. Die beliebte „Dankesformel“ erhöhe zwar die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der Arbeitgeber könne sie aber auch weglassen. Allerdings nicht in diesem Fall. Da der Arbeitgeber das erste Zeugnis mit einem Dank schloss, könne er später nicht mehr darauf verzichten.

Das Gericht begründet dies mit dem sogenannten Maßregelverbot nach § 612a BGB. Einem Arbeitnehmer darf es nicht angekreidet werden, wenn er nur sein gutes Recht wahrnimmt. Nachkarten ist dem Arbeitgeber somit untersagt, das Zeugnis darf nicht verschlechtert werden (Aktenzeichen 9 AZR 272/22).

Schlechtes Wetter im Urlaub? Nein! – Doch! – Ohh!

Schlechtes Wetter im Urlaub? Das hätten eine Frau und ihr Reisepartner nun wirklich nicht für möglich gehalten. Sie verklagten den Reiseveranstalter, weil sie auf ihrer zweiwöchigen Rundtour durch Ecuador wegen Nebel und Starkregen kaum was von Landschaft und Tierwelt zu sehen bekamen.

Ganz billig war der Trip mit 18.000 Euro wirklich nicht. Allerdings übernimmt auch der Veranstalter einer Luxusreise keine Gewähr dafür, dass die Sonne scheint. So zumindest die Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt a.M. Auch eine besondere „Aufklärungspflicht“ übers allgemeine Wetter im Zielgebiet sehen die Richter nicht. Übers weltweite Wetter, einschließlich Regenzeiten in exotischen Ländern, könne man sich heute problemlos im Internet informieren (Aktenzeichen 16 U 54/23).

Androgyne Person jüngeren Alters

Er hat mich genötigt. Er hat mir den Stinkefinger gezeigt. Mit diesem und ähnlichem Inhalt werden Tag für Tag hunderte Autofahrer angezeigt. Die Strafanzeigen haben häufig einen Schwachpunkt: Wer war denn jetzt genau der vermeintliche Bösewicht hinter den getönten Autoscheiben?

In den weitaus meisten Fällen gibt es nur das KfZ-Kennzeichen. Vielleicht noch eine vage Beschreibung. „Brillenträger“ etwa. Oder, wie ich neulich gelesen habe: „androgyne Person jüngeren Alters“.

Ein Polizist zeichnete sich in solch einem Fall durch messerscharfen Spürsinn aus. „Die Halterin des Pkw kommt als Beschuldigte nicht in Betracht“, lesen wir, „da die Zeugen von einem Mann als Fahrzeugführer sprechen.“

So weit, so richtig. Jetzt kommt’s: „Nach allgemeiner Lebenserfahrung kann gesagt werden, dass der Halter des Fahrzeugs oder seine nahen Angehörigen auch die regelmäßigen Nutzer des Fahrzeugs sind. Daher wird der Ehemann der Halterin als Beschuldigter in diesem Verfahren geführt.“

Die Richter am Bundesverfassungsgericht haben übrigens eine völlig andere Lebenserfahrung. Sie schrieben schon 1993:

„Daraus alleine, dass der Betroffene Halter eines Kraftfahrzeuges ist, darf beim Fehlen jedes weiteren Beweisanzeichens nicht gefolgert werden, er habe das Fahrzeug bei einer bestimmten Fahrt auch tatsächlich geführt. Auch bei privat genutzten Fahrzeugen ist die Möglichkeit, dass sie von Familienangehörigen, Angestellten, Freunden oder Bekannten des Halters geführt wurden, im allgemeinen zu naheliegend, als dass das Gericht sie ohne weiteres außer Acht lassen könnte.“

Prima im Ergebnis, wenn der Polizeibeamte eher sitzende Tätigkeit bevorzugt. Wie im vorliegenden Fall. Etwas engagiertere Polizisten können da durchaus noch was reißen. Wenn sie rausfahren oder zumindest anrufen, um mit höflichen Fragen vielleicht was Näheres rauszufinden. Das gelingt ihnen aber auch nur bei Leuten, die sich in Unkenntnis der Vorgaben des Verfassungsgerichts um Kopf und Kragen reden. Kann man natürlich machen, man muss es aber bekanntlich nicht.

Drecksstaat darf man über den Staat nicht sagen

Das schrieb ein Student zur Corona-Zeit auf Twitter:

„Ich kriege das absolute Kotzen bei diesem Drecksstaat und jeder einzelnen Person, die dieses menschenverachtende System unterstützt.“

Der Anlass war nachvollziehbar traurig. Der Student durfte seine Großmutter nicht im Altenheim besuchen. Verlassen durfte sie das Heim auch nicht, weil es in der Einrichtung eine Erkrankung gegeben haben soll. Die alte Dame musste ihren 90. Geburtstag alleine feiern. Das führte zur Unmutsäußerung des Studenten.

Aufgrund eines anonymen (!) Hinweises nahm sich der Düsseldorfer Staatsschutz der Sache an. Die Details kann man in verlinkten Artikel nachlesen. Am Ende stand ein Strafbefehl des Amtsgerichts München. 1.500 Euro Geldstrafe soll der Betroffene zahlen, wegen „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“ gemäß § 90a StGB.

Gerichte (interessanterweise auch Organe des Staates, also in gewisser Weise selbst betroffen) haben schon öfter darüber gebrütet, wie weit unfreundliche Worte frustrierter Staatsbürger gehen dürfen. Besonders viel Nachsicht ließ man nicht walten. So titulierte ein Bürger die Bundesrepublik als „frischgestrichene Coca-Cola Bude“ – strafbar. Auch die „Bimbes-Republik“ ging nicht mehr als deftige Meinungsäußerung durch, ebenso wenig der „käufliche Saustall“. Das Berliner Abgeordnetenhaus muss sich nach einem anderen Strafurteil nicht als „Allerheiligstes des bürgerlichen Volksbetrugs“ bezeichnen lassen.

Der Student kann gegen den Strafbefehl Einspruch einlegen. Ganz aussichtslos ist die Sache für ihn nicht. Eine Staatsbeschimpfung bzw. -verunglimpfung liegt nur vor, wenn mit der Aussage tatsächlich der Bestand des Landes im Gesamten angegriffen wird, also die freiheitlich-demokratische Grundordnung als solche. Das war hier aber gerade nicht der Fall, denn der Unmut des Studenten richtete sich erkennbar gegen eine konkrete Maßnahme im Zusammenhang mit COVID. Mit etwas gutem Willen könnte man das Ganze noch als Kritik am Staat in einer Sachfrage durchgehen lassen. Ich würde sagen, spätestens am Bundesverfassungsgericht stehen die Chancen hierfür nicht schlecht.

Besser wäre es natürlich gewesen, wenn der Fall sofort wegen Geringfügigkeit eingestellt worden wäre. Laut dem Bericht wurde stattdessen eine Riesenakte angelegt, die etliche Male zwischen Düsseldorf und München hin- und hergeschickt wurde.

Bericht auf Nius

#Befreiung #Niederlage

Zeigt mir bitte Geschichtsbücher aus Frankreich, England, den USA, Russland oder Polen, in denen die bedingungslose Kapitulation des zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr vorhandenen 3. Reiches in erster Linie als „Befreiung“ beschrieben wird, verbunden mit dem mahnenden Hinweis, dass man von einer Niederlage der Deutschen oder einem Sieg über sie aber bitte nicht sprechen darf.

Wir haben den Krieg verloren, und so sehen es die Sieger völlig zu Recht. Der Rest der Welt übrigens auch. Es war und bleibt eine Niederlage im größtmöglichen Umfang. Was ganz einfach daran liegt, dass eure und meine Großeltern und Urgroßeltern sich eingefügt und nicht in nennenswerter Zahl gegen das System aufbegehrt haben. Bis zum Schluss.

Vorrangiges Motiv der Siegermächte war zu keinem Zeitpunkt, uns die Freiheit zu bringen. Ihnen ging es (notgedrungen) darum, den Kriegsgegner Deutsches Reich unschädlich zu machen, der Europa und halb Afrika mit beispielsloser Aggressivität und Menschenverachtung okkuppiert hatte – und der offen nach dem Rest der Welt gierte.

Dieser Gegenwehr hatte Nazideutschland letztlich nichts entgegenzusetzen. Auch deshalb ist der Kern des damaligen Geschehens die Niederlage. Dieser Niederlage wohnte auch ein Element der Befreiung inne. Aber eine „Befreiung“ bezieht sich von ihrer Wirkung her auf die Wochen, Monate und Jahre nach der Niederlage. Bis zur Gründung der Bundesrepublik sind nach dem letzten Schuss noch Jahre vergangen. Dies war die eigentliche Zeit der Befreiung. Es gab die Entnazifizierung. Und es war längst nicht ausgemacht, dass man uns wieder mit offenen Armen integrieren würde (Stichwort: Morgenthau-Plan). Letztlich waren die Vorboten des Kalten Krieges unser Glücksfall. Wir wurden wieder gebraucht, und – vor allem – deshalb hat man uns gut behandelt. Wofür ich persönlich auch dankbar bin.

Wer nun verlangt, man solle von Befreiung sprechen und nichts anderem, hilft den falschen. Nämlich den Feiglingen. Wer von den Siegermächten „befreit“ werden musste, war nach diesem Denkmuster selbst irgendwie Opfer des Systems. Nicht Täter. Nicht Mitläufer. Das Beharren auf „Wir sind befreit worden“ ist im Prinzip nichts anderes als eine nachträgliche Reinwaschung von der ethischen Verantwortung, die jedes Mitglied einer Gesellschaft trägt. Dieser sind die weitaus meisten Deutschen in den Jahren 1933 bis 1945 offenkundig nicht gerecht geworden.

Wobei man sich an diesem Punkt auch immer die Frage stellen muss: Was wäre zum Beispiel meine Rolle als Jurist damals gewesen mit, sagen wir, Geburtsjahrgang 1905? Eine ehrliche Antwort fällt für mich eher beschämend aus. Schön, wenn es bei euch anders ist.

Ich habe das starke Gefühl, dass genau jene, die nun das Narrativ von der Befreiung spinnen, sich genau so eine schmerzhafte Frage noch nie gestellt haben. Nur deshalb fällt es ihnen so leicht, den Deutschen im 3. Reich zu gestatten, sich als „Befreite“ zu fühlen und damit notwendigerweise auch als „Opfer“.

Natürlich könnt ihr es halten, wie ihr wollt. Ich habe kein Problem damit, wenn ihr sagt, wir wir wurden befreit.

Ich habe aus den vorstehenden Gründen aber ein Problem damit, wenn mir verboten wird zu sagen, wir haben verloren.

Jubel über Blitzer-Tod

In Berlin hat ein Smart einen der modernsten Blitzer geschrottet:

„Die Nachricht des Blitzer-„Todes“ verbreitete sich in den Sozialen Medien am Sonntag in Windeseile: Allein das Video eines Tiktok-Nutzers, der die Zerstörung des Blitzers bejubelt, erreichte bis Montagfrüh rund 100.000 Menschen. In den Kommentaren freuten sich zahlreiche Nutzer über den Totalschaden der Anlage. …

Innensenatorin Iris Spranger will die Anzahl der Blitzer in der Stadt deutlich ausbauen: von derzeit 40 auf fast 100.“

Zwischen Absatz 1 und 2 des Zitats gibt es keinen Zusammenhang.

t-online

Ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann

Einige Städte machen ein Angebot, das man wirklich nicht ausschlagen kann: Wer seinen Führerschein zurückgibt, kriegt ein Deutschlandticket. Kostenlos!

Aber nicht dass jemand auf die Idee kommt, das Deutschlandticket sei dann 10 Jahre gratis. Oder gar bis zum Lebensende. Die Stadt Lübeck spendiert für den Führerschein längstens ein Jahr Deutschlandticket. Ein „besseres“ Angebot konnte ich nicht finden.

Als ganz schlechter Scherz darf das Angebot der Stadt Dortmund gelten. Ganze zwei (in Ziffern: 2) Monate bietet die Kommune für die Abgabe des Führerscheins. Der finanzielle „Vorteil“ beträgt somit 98 Euro. Dafür kriegt man als Fahranfänger mit etwas Glück anderthalb Fahrstunden.

Wer bei so großzügigen Offerten ernsthaft an einen Führerscheinverzicht denkt, kann das natürlich gerne machen. Man muss sich nur über eines klar sein: Die „Rückgabe des Führerscheins“ werten Führerscheinstellen juristisch völlig korrekt als Verzichtserklärung. Für immer. Es ist dann Feierabend mit dem Autofahren. Anders gesagt: Die Fahrerlaubnis lebt auch mit dem Ende des Dankeschön-Abos fürs Deutschlandticket nicht wieder auf.

Dann bleibt höchstens, einen neuen Führerschein zu machen.

Bericht im MDR

Gericht verweigert Auslieferung nach Großbritannien

Das Oberlandesgericht Karlsruhe ist nicht bereit, einen gesuchten mutmaßlichen Drogenhändler auszuliefern – nach Großbritannien. Die Richter äußern Zweifel, ob die Situation in britischen Haftanstalten menschenwürdig ist.

Die britische Justiz verlangt die Auslieferung eines Albaners. Dieser soll mit fünf Kilogramm Kokain gedealt und 330.00 britische Pfund gewaschen haben. In Deutschland liegt gegen den Mann nichts vor, er wollte nach eigenen Angaben seine schwer kranke Lebensgefährtin besuchen. Das Oberlandesgericht musste deshalb entscheiden, ob der nationale Haftbefehl aus England und die „Red Notice“ von Interpol reichen. Einen Europäischen Haftbefehl gibt es wegen des EU-Austritts des Landes nicht mehr.

Der Anwalt des Betroffenen machte geltend, britische Gefängnisse seien baulich marode, chronisch überbelegt und die Atmosphäre sei durch Gewalt belastet. Belüftung, Licht und Raumgröße genügten nicht den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Die Karlsruher Richter verlangten von ihren britischen Kollegen eine Garantie für ordentliche Unterbringung des Mannes sowie Informationen zu den Haftanstalten, die in Frage kommen. Die Antwort fiel eher mager aus. Es gebe Modernisierungsprogramme, die Überbelegung betrage 107,5 %. Nachfragen wurden nicht beantwortet.

Der Albaner wurde ohne weitere Auflagen aus der Haft entlassen (Aktenzeichen 301 OAus 1/23).

Wer sich bedrängt fühlt, darf trotzdem nicht rasen

Weil er sich vom nachfolgenden Fahrzeug bedrängt fühlte, gab ein Berliner Autofahrer Gas. Er fuhr 88 km/h statt der erlaubten 50 km/h. Dumm nur: Der „Drängler“ war ein Wagen der Polizei. Gegen das einmonatige Fahrverbot sowie die Geldbuße von 260 Euro zog der Betroffene vor Gericht.

Der Amtsrichter erkannte die unschöne Rolle des Polizeiautos. Er reduzierte die „vorwerfbare Überschreitung“ auf 25 km/h. Das hätte dem Mann ein Fahrverbot erspart.

Doch die vorgesetzten Richter am Kammergericht Berlin sahen es anders:

„Einen Rechtssatz, eine Annäherung des nachfolgenden Fahrzeugs erlaube eine – zumal drastische – Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, gibt es nicht.“

In der Tat ist es ein klein wenig unlogisch, einem Drängler davon fahren zu wollen. Immerhin will der Drängler ja in der Regel das Tempo erhöhen. Er würde also ohnehin gleich wieder am Hinterrad kleben. Die Sache muss jetzt neu verhandelt werden. Klare Perspektive für den Berliner Autofahrer: Der Führerschein ist für einen Monat weg (Aktenzeichen 3 ORbs 158/23122 Ss 71/23).

Encrochat: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das Bundesverfassungsgericht hat sich zur Encrochat-Problematik geäußert. Doch das letzte Wort ist damit nicht gesprochen.

Encrochat war eine Kommunikationsplattform. Sie versprach totale Abhörsicherheit für hohe Tarife. Anfang 2020 infiltrierten französische und niederländische Ermittler den Dienst – und lasen ein knappes halbes Jahr munter mit. Ihre Erkenntnisse teilten sie weltweit mit anderen Polizeibehörden. Auch in Deutschland gab es hunderte Verurteilungen zu meist hohen Haftstrafen.

Klingt erst mal nach normaler Polizeiarbeit. Allerdings weiß man bis heute nicht, wen die Franzosen und Niederländer aus welchem Grund abhören wollten. Oder haben sie sich tatsächlich zu einem Generalangriff auf die Plattform entschlossen, nach dem Motto: weil wir es können? Fakt ist jedenfalls, dass sich bei den mir bekannten Fällen der Anfangsverdacht überhaupt erst aus den Chatmitschnitten ergab, welche die Franzosen später ans Bundeskriminalamt schickten.

So eine Komplettinfiltration ist im Prinzip auch bei Telegram, Signal, Facebook, Twitter, Instagram und Twitch denkbar. Oder bei jeder anderen Plattform. Viele Millionen Menschen würden faktisch anlasslos durchleuchtet, ohne dass bis dahin etwas gegen sie vorliegt. Da darf einem schon mulmig werden.

Vor allem die federführenden Franzosen behandeln die Aktion als Staatsgeheimnis. Es ist noch nicht einmal genau bekannt, ob die Aktion als solche von einem Gericht abgesegnet wurde. Die deutschen Behörden kriegten nur die Rohdaten der Chats. Diese wurden bei uns mit enormen Aufwand aufbereitet. Die PDFs waren dann das „Beweismittel“. Friss oder stirb, bedeutete das in der Regel. Nachfragen zum Wie und Warum, zu möglichen Falschzuordnungen und anderen Fehlerquellen – unmöglich.

Der Bundesgerichtshof hat die Verurteilungen mit eher lapidarer Begründung gebilligt. Nun ist das Bundesverfassungsgericht gefragt. Die Betroffenen berufen sich auf ein unfaires Verfahren, die Missachtung der Unschuldsvermutung, die Missachtung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter und diverse andere Grund- und Verfahrensrechte.

Erste Verfassungsbeschwerde hat der 2. Senat des Verfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerden sollen unzulässig sein, und zwar aus einer Vielzahl verschiedener Gründe. Inhaltlich äußert sich Karlsruhe aber nicht zu den rechtlichen Problemen. Die Frage, ob die Verurteilten tatsächlich zu Recht in den Knast gegangen sind, ist also nach wie vor offen.

Fünf weitere Verfassungsbeschwerden zu Encrochat sind in Karlsruhe offen. Möglicherweise kommen auch noch Impulse von europäischer Ebene. Das Landgericht Berlin hat dem Europäischen Gerichtshof schon Fragen vorgelegt. Außerdem können Betroffene noch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.

Etliche Angeklagte sind aber faktisch außen vor. Sie haben Geständnisse abgelegt, meist weil ihnen eine mildere Strafe angeboten wurde. Ihre Verurteilung beruht also auf Encrochat und dem Geständnis. Da wird’s natürlich eng, selbst wenn die Encrochat-Geschichte vor Gericht doch noch eine rechtsstaatliche Aufarbeitung erfährt (Aktenzeichen 2 BvR 684/22 und andere).

Wenn das Zoom-Gericht tagt

Die Gerichtsverhandlung über Video ist zwar noch nicht die Regel. Aber immer mehr Gerichte nutzen die Möglichkeit, den Fall virtuell zu klären und den Beteiligten die Anreise zu ersparen. Möglich ist das am Zivil-, Verwaltungs-, Sozial-, und Finanzgericht. Also so gut wie überall, mit Ausnahme der Strafgerichte. Bei Videoverhandlungen hängen die Fallstricke aber niedrig. Das zeigt aktueller Fall.

Das Finanzgericht in Münster hatte die mündliche Verhandlung durch eine Video-Schalte ersetzt. Bild und Ton waren da. Allerdings betätigte sich der Vorsitzende Richter als „Regisseur“. Mal blendete er im Bild alle Richter ein. Aber auch mal nur den, der gerade sprach. Zwei Drittel der Sendezeit soll nur der Vorsitzende selbst zu sehen gewesen sein. Das belegt jetzt keine übertriebene Selbstverliebtheit. Der Vorsitzende hat fast immer den größten Redeanteil.

Der Kläger aus dem Verfahren wehrte sich aus formalen Gründen gegen die Entscheidung des Finanzgerichts. Seine Begründung: Jedes Gericht muss während der Verhandlung ordnungsgemäß besetzt sein. Das heißt, alle Richter müssen anwesend sein. Sie dürfen nicht schlafen. Oder per SMS den Babysitter absagen. Alles schon dagewesen.

Nur, so der Kläger, ohne ein Panoramabild von der Richterbank könne er dies am anderen Ende der Leitung nicht überprüfen. So simpel die Argumentation, so zugkräftig war sie. Der Bundesfinanzhof gab der Revision des Mannes statt. Neben schlafenden Richtern verweist der Bundesfinanzhof auf einen anderen Fall. Dort war einer der Richter erst kurz nach Verhandlungsbeginn am Arbeitsplatz erschienen. Bei einer virtuellen Verhandlung hätte der Kläger das ohne durchgehendes Bild von der Richterbank nicht feststellen können.

Wenn man im Prozess eine Klatsche gekriegt hat, lässt sich die Sache so ganz neu aufrollen. Ob das Ganz die Lust von Richtern auf Videoverhandlungen steigert, ist eine andere Frage (Aktenzeichen V B 13/22).

Gnadenstoß für Vorratsdatenspeicherung

Nun zur guten Nachricht des Tages: Es wird in Deutschland keine Vorratsdatenspeicherung geben. Das Bundesverwaltungsgericht beerdigt mit einer heute bekanntgegebenen Entscheidung den Wunsch nach einer vorsorglichen Totalspeicherung von Verbindungsdaten aller Bürger, egal ob beim Telefon, im Mobilfunk oder im Internet.

Die schon seit Jahren in Paragrafen gegossene umfassende Vorratsdatenspeicherung verstößt nach Auffassung der Richter gegen EU-Recht. Sie ist deshalb nicht anwendbar, wie das Gericht ausdrücklich feststellt. Schon die Vorinstanzen und andere Gerichte haben die Vorratsdatenspeicherung vorläufig blockiert.

Nach der heute bekanntgegebenen Entscheidung ist eine anlasslose, flächendeckende und personell, zeitlich und geografisch unspezifizierte Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten unzulässig. Laut den Richtern fehlen „objektive Kriterien“, die einen Zusammenhang zwischen Speicherung und verfolgtem Zweck herstellen.

Außerdem habe der Gesetzgeber bei Telefondaten die vom Europäischen Gerichtshof geforderte strikte Begrenzung der Zugriffsrechte auf „Fälle der nationalen Sicherheit“ nicht umgesetzt. Bei Internet-Verbindungen hätte die Nutzung auf Fälle schwerer Kriminalität und schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beschränkt werden müssen. All dies hat der Gesetzgeber laut dem Urteil versäumt.

Die Vorratsdatenspeicherung steht zwar nach wie vor im Gesetz. Sie bleibt aber außer Kraft (Aktenzeichen 6 C 6.22 sowie 6 C 7.22)