Entfremdete Alltage

Politikprofessor Franz Walter beschreibt die deutsche Mittelschicht:

Als Verbraucher, die jederzeit über preisgünstige und qualitativ geprüfte Angebote in den Supermärkten, Fachläden und Reisebüros der Republik Bescheid wissen, halten sich Mitte-Menschen für unschlagbar. Man ist modern, aber auch gediegen, mag keinen exaltierten Avantgardismus, will aber auch nicht durch ästhetische Rückständigkeiten negativ auffallen. Das eigene, verlässlich Ton in Ton eingerichtete Heim ist wichtig, auch das Mittelklasseauto, die regelmäßige Urlaubsreise und das schulisch-beruflich-familiäre Fortkommen der Kinder. Um Haus, Wohnung und Familie ranken sich überhaupt die Aktivitäten der Menschen in der bürgerlichen Mitte. Einrichtungsgeschäfte bilden einen favorisierten Ort für den Einkaufsbummel am Wochenende. Der eigene Ziergarten ist stets perfekt hergerichtet und akkurat gepflegt; Unkraut wird in der gesellschaftlichen Mitte Deutschlands konsequent bekämpft.

Trotz der vermeintlichen Idylle verortet der Forscher ausgerechnet hier eine Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens. Gerade die Verzweiflung um die Aufstiegschancen der eigenen Kinder soll den Unmut wachsen lassen. Die Kinder selbst, sogenannte Experimentalisten, seien ohnehin des neoliberalen Geistes überdrüssig:

In diesem jüngsten deutschen Milieu wächst die Kritik am totalitären Primat der Ökonomie, an den entfremdeten Alttagen, den sozialen Eisigkeiten. Experimentalisten übersetzen diese kritische Attitüde bislang nicht in kontinuierliche politische Aktivitäten; dazu ist ihre Lebensform zu bohemehaft, zu ruhelos und suchend. Insofern allerdings könnte der gestaute Unmut dort auch explosiv zum Ausbruch kommen. Die Sozialforscher jedenfalls haben keinen Zweifel, dass aggressive Neigungen in dieser Lebenswelt auffällig – wenn auch sonst in der Gesellschaft kaum bemerkt – angewachsen sind. Ganz unterschwellig also scheint es in der deutschen Mitte zu brodeln.

Unterschwellig? Das ist der einzige Punkt, an dem ich dem Autor widersprechen würde. Schon seit längerem hat man in diesen Kreisen ein gemeinsamen Thema. Die Schimpferei darüber, wie ätzend mittlerweile vieles geworden ist, hat Verlegenheitsdiskussionen über das Wetter längst überflüssig gemacht.