Frau muss für Selbstmordversuch zahlen

Das Amtsgericht München hat eine Frau zu 1.500 Euro Schmerzensgeld verurteilt, weil sie einen Selbstmordversuch begangen hat. Die 23-Jährige hatte sich vor einen Zug geworfen, überlebte aber.

Die Zugführerin machte vor Gericht geltend, sie leide an einem posttraumatischen Belastungssyndrom und sei einen Monat krankgeschrieben gewesen.

Die zuständige Amtsrichterin bejahte eine Körperverletzung. Für die Beklagte sei vorhersehbar und erkennbar gewesen, dass sie bei dem Sprung vor den einfahrenden Zug bei dem Zugführer einen psychischen Schaden verursachen wird.

Das ist im Ergebnis nachvollziehbar. Allerdings wäre die junge Frau um eine Zahlung herumgekommen, wenn sie ausreichende Atteste für ihre Schuldunfähigkeit im Unfallzeitpunkt vorgelegt hätte. Das versäumte sie aber (Aktenzeichen 122 C 4607/14). Mein Kollege Carsten R. Hoenig diskutiert in seinem Blog auch die strafrechtliche Seite.

Vor der Selbstaufgabe?

+++ Für Bundesverfassungsrichter Andreas Paulus gehört das Recht auf Privatheit noch längst nicht der Vergangenheit an. „Wir sollten nicht einfach hinnehmen, dass wir in einer globalen Überwachungssituation leben“, sagte Paulus auf einem Kongress. Der Richter warnte vor der „Selbstaufgabe des Grundrechtsstaats.“ +++

+++ Der SPD-Bundestagsabgeordnete Dirk Wiese sprach in der Bundestagsdebatte zu neuen Sicherheitsgesetzen schöne Worte. Kein Staat dürfe tatenlos zusehen, wenn seine Bürger Tod und Elend in die Welt tragen. Überraschenderweise bezog sich seine Rede gar nicht auf die deutsche Rüstungsindustrie. +++

+++ Wer von einem Waffenbesitzer eine legale Schusswaffe erbt, darf diese unter Umständen behalten. Allerdings können die Behörden verlangen, dass die Waffe wirksam blockiert wird. Diese Pflicht gilt unabhängig davon, wann der Erbfall eingetreten ist, urteilt das Bundesverwaltungsgericht (Aktenzeichen 6 C 31.14). +++

+++ Die katholische Kirche durfte einer Erzieherin kündigen, die in ihrer Freizeit Pornofilme drehte und online veröffentlichte. Der Nebenjob verstoße gegen die kirchliche Sozialethik und sei als schwerwiegende sittliche Verfehlung einzustufen, urteilte das Landesarbeitsgericht München. +++

Justiz öffnet sich Tattoos

Eine kleine Tätowierung am Handgelenk ist kein Einstellungshindernis für Justizwachtmeister. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren entschieden.

Die 21-jährige Antragstellerin bewarb sich im September 2014 um die Einstellung als Justizhauptwachtmeisteranwärterin. Die Präsidentin des Kammergerichts lehnte ihre Bewerbung mit der Begründung ab, dass ihre 5 x 3 cm große Tätowierung beim Tragen der Dienstkleidung sichtbar sei. Diese befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Handgelenk und wäre beim Heben des Arms trotz eines Langarmhemdes zu sehen.

Das Verwaltungsgericht sieht darin kein Hindernis. Die Tätowierung wecke keine Zweifel an der persönlichen Eignung der Bewerberin. Zwar dürfe der Dienstherr Anforderungen an das äußere Erscheinungsbild von Beamten stellen; ein Verbot sichtbarer Tätowierungen dürfe sich aber nur auf plausible und nachvollziehbare Gründe stützen und müsse aus dienstlichen Gründen erforderlich sein.

Dies sei hier nicht der Fall. Tätowierungen, so die Richter, seien mittlerweile als Modeerscheinung in allen Gesellschaftsschichten verbreitet und würden nicht mehr bereits per se als Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Haltung oder Einstellung angesehen.

Die Bewerberin hatte sich einen heulenden Wolf auf den Unterarm tätowieren lassen. Die Tätowierung sei klein und der Wolf werde nicht als aggressives oder gefährliches Tier dargestellt. Das Tier sei auch – unabhängig von der Art seiner Darstellung – kein Symbol der rechtsextremen Szene.

Von daher bestehe kein Anlass zur Sorge, dass das Ansehen der Justiz schaden nimmt. Das Land Berlin kann Beschwerde einlegen (Aktenzeichen VG 36 L 83.15).

Offenbach ist kein Einzelfall

Heute begann in Darmstadt der Prozess gegen einen jungen Mann, der vor einem Schnellrestaurant in Offenbach den Tod der 23-jährigen Tugce A. verursacht haben soll. Die Einzelheiten lassen sich in zahlreichen Berichten nachlesen. Ich möchte nur auf einige Punkte hinweisen, die mitunter etwas verzerrt rüberkommen:

-> Die Anklage lautet auf Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB), nicht auf Totschlag oder gar Mord. Staatsanwaltschaft und Gericht gehen also davon aus, dass der Angeklagte Sanel M. den Tod des Opfers gerade nicht wollte. Es handelt sich also, was die Todesfolge angeht, nicht um eine Vorsatztat im engeren Sinn.

-> Der Angeklagte Sanel M. war zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt. Er ist also „Heranwachsender“ im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes. Dem Gericht wird nach Lage der Dinge kaum etwas anderes übrig bleiben, als bei Sanel M. das Jugendstrafrecht auch anzuwenden. Damit gilt auch die normale – hohe – Mindeststrafdrohung von drei Jahren aufwärts für Körperverletzung mit Todesfolge nicht.

Vielmehr wird das das Gericht auf den ganz normalen Strafrahmen der Jugendstrafe zurückgreifen. Dieser liegt bei sechs Monaten bis zu zehn Jahren.

-> Im Jugendstrafrecht geht es ausschließlich um den Erziehungsgedanken. Die Frage lautet also, welche Maßnahmen erforderlich sind, um den Täter – und niemanden sonst – wieder „in die Spur“ zu bringen. Das Gericht darf also gar nicht auf einen Abschreckungseffekt durch ein explizit hartes Urteil mit Signalwirkung für andere Gewalttäter abzielen, wie das teilweise erhofft und gefordert wird.

-> Das ungefähre Strafmaß für Sanel M. lässt sich durchaus eingrenzen. Es gibt nämlich praktisch täglich ähnliche Fälle, bei denen Gewalt durch junge Leute aus dem Ruder läuft. Die Verteidiger werden sicher ein ambitioniertes Ziel verfolgen, ohne dafür gleich als anmaßend dazustehen: nämlich eine Bewährungsstrafe.

Dazu werden sie insbesondere herausarbeiten, was für ihren Mandanten spricht. Dazu gehört insbesondere auch die Vorgeschichte, nämlich wie sich alle Beteiligten vor der Tat verhalten haben. Oder etwa der Grad der Alkoholisierung. Und nicht zuletzt den Umstand, dass der Tod in Folge eines Sturzes eher die Ausnahme ist als die Regel.

Ob es am Ende für eine Bewährungsstrafe reicht, ist sicher fraglich. Auf der anderen Seite wird der Prozess nach meiner Einschätzung aber auch nicht mit einem Urteil enden, das drei, maximal vier Jahre übersteigt.

Die Ermittlungen dauern an

Gegen meinen Mandanten wird ermittelt. Das hat er, sagen wir es mal so, aus einer eher fischigen Quelle erfahren. Ich habe natürlich geschwind Akteneinsicht beantragt, auch wenn mir klar ist, dass dies den Staatsanwalt zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht freut. Auf meinen Brief kriegte ich folgende Antwort vom Staatsanwalt:

… auf Ihr Schreiben vom 15. April 2015 teile ich Ihnen mit, dass Akteneinsicht derzeit nicht gewährt werden kann, da die Ermittlungen andauern (§ 147 Abs. 2 S. 1 StPO).

Nun ist es gerade Alltag, dass die Ermittlungen andauern. Trotzdem wird Verteidigern sehr häufig, ja fast immer schon während der Ermittlungen Akteneinsicht gewährt. Das ist oft ja sogar sinnvoll, zumal der Beschuldigte ja vielleicht sogar zu den Vorwürfen Stellung nehmen möchte. Jedenfalls ist die Fortdauer der Ermittlungen gerade kein Versagungsgrund.

Der so ziemlich einzige Versagungsgrund ist laut dem Gesetz vielmehr, dass die Einsicht „den Untersuchungszweck gefährden kann“. Genau darauf bezieht sich das Schreiben aber nicht. Ich habe deshalb meinen Antrag noch mal mit dem Hinweis geschickt, dass ich die Akte gerne hätte, weil ja schon nach dem eigenen Schreiben des Herrn Staatsanwalts keine gesetzlichen Gründe gegen die Einsicht sprechen.

Ich werde die Akte nicht kriegen. Aber manchmal muss man als Verteidiger auch pain in the ass sein. Das gehört zum Job.

Voller Sendeeifer

Immer mehr Smartphone-Nutzer sind voller Sendeeifer. Mit YouNow oder der Twitter-Software Periscope verwandelt man das eigene Leben ganz leicht in einen Livestream. Sozusagen ein Youtube 2.0, das nicht aus der Konserve kommt.

Aber auch beim Streamen ins Netz gelten Spielregeln. Das Urheberrecht zum Beispiel. Oder der Schutz der Privatsphäre. In meiner aktuellen Kolumne für die ARAG beleuchte ich die wichtigsten juristischen Aspekte dieses neuen Zeitvertreibs.

Zum Beitrag.

Die Sache mit dem Männerhaar

Ältere Männer mit „normalem“ Haarausfall können sich von der Krankenkasse keine Perücke zahlen lassen, urteilt das Bundessozialgericht (Aktenzeichen B 3 KR 3/14 R).

Aus der Begründung:

Der alleinige Verlust des Kopfhaares bei einem Mann ist jedoch nicht als Krankheit zu werten, weil er weder die Körperfunktionen beeinträchtigt noch entstellend wirkt. Die überwiegende Zahl der Männer verliert im Laufe des Lebens ganz oder teilweise ihr Kopfhaar. Dadurch erregen Männer aber weder besondere Aufmerksamkeit im Sinne von Angestarrt-Werden noch werden sie stigmatisiert.

Anders ist es laut dem Gericht bei Frauen:

Demgegenüber tritt bei Frauen aus biologischen Gründen in der Regel im Laufe des Lebens kein entsprechender Haarverlust ein. Eine Frau ohne Kopfhaar fällt daher besonders auf und zieht die Blicke anderer auf sich. Dieser bei Frauen von der Norm deutlich abweichende Zustand ist ‑ wenn er entstellend wirkt ‑ krankheitswertig, sodass die Versorgung mit einer Perücke bei Frauen Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sein kann.

Jetzt wissen wir Bescheid.

Urteil: Dashcam-Bilder sind verwertbar

Dürfen Dashcam-Aufnahmen in Strafprozessen verwendet werden? Das Amtsgericht Nienburg hatte diese Frage zu entscheiden. Nach Auffassung des Gerichts bestehen keine grundsätzlichen Bedenken, Bilder von Dashcams als Beweismittel zu verwerten. Bislang gibt es nur Urteile zu Dashcams von Verwaltungs- und Zivilgerichten.

In dem Fall ging es um eine mögliche Nötigung im Straßenverkehr, die das mutmaßliche Opfer mit der Dashcam dokumentiert hatte. Das Amtsgericht Nienburg hat keine Probleme damit, die Aufnahmen im Prozess zu verwenden. Umfangreich begründet das Urteil, warum die Bilder mit dem geltendem Datenschutzrecht vereinbar sind.

Bedenken hätte das Gericht nur für den Fall, dass Autofahrer gezielte Verkehrsüberwachung betreiben, etwa um massenhaft vermeintliche Verkehrssünder anzuzeigen. Hier ging es aber wohl nicht um einen derartigen „Hilfssheriff“. Vielmehr hatte der Kamerabesitzer die Dashcam nach eigenen Angaben erst aktiviert, nachdem er bedrängt worden war.

Die Brille

So schnell kann es gehen. Mein Mandant fand sich auf der Anklagebank wieder, weil mit einem Auto, das auf seine Firma zugelassen ist, ein Verkehrsdelikt begangen worden sein soll.

Schon früh hatte ich dezent darauf hingewiesen, es sei ja wohl eher unwahrscheinlich, dass der Geschäftsführer einer mittelgroßen Firma ausgerechnet mit einem der Lieferwagen durch die Gegend fährt und nicht mit dem Dienst-Daimler.

Und natürlich, dass die Beschreibung des Fahrers extrem vage ist. Sie passt so ziemlich auf jeden männlichen, weißen Mitteleuropäer mit etwas lichtem, dunkelblonden oder braunem Haar. Mehr konnte die einzige Zeugin nämlich zum Fahrer nicht sagen. Außer, dass er eine Brille trug.

Auch die Richterin fand es nicht sonderlich gut, dass die Staatsanwaltschaft meiner Bitte nicht gefolgt ist, der Zeugin im Vorfeld Vergleichsfotos zu zeigen. Zumal die Zeugin schon gegenüber der Polizei ihre offenkundigen Erinnerungslücken mit ziemlich steilen Behauptungen wettmachte.

Denn es ist immer blöd, wenn nur eine Person auf der Anklagebank sitzt. Mit Ausnahme des Anwalts, der ja allerdings eine Robe trägt. Wie bei dieser Konstellation nicht anders zu erwarten, war sich die Zeugin schon nach einem Blick auf meinem Mandanten sicher, dass er der Fahrer ist. „Ich erinnere mich genau an das Gesicht dieses Menschen“, sagte sie. „Er ist es zu 100 %. Genau so hat er ausgehen.“

Ich hatte der Richterin vor der Verhandlung extra gesagt, mein Mandant werde sich ohne Brille hinsetzen. Und dass die Zeugin die Brille im Gegensatz zu ihrer früheren Aussage von sich aus garantiert nicht erwähnt, wenn sie den Angeklagten ohne sieht.

Der Freispruch ließ keine fünf Minuten auf sich warten.

Ende einer innigen Liebe

+++ Adblocker sind zulässig, entschied das Landgericht Hamburg. In dem Rechtsstreit ging es um Adblock Plus. Das Besondere hier ist, dass der Betreiber bestimmte Werbung durchlässt – auch gegen Bezahlung. Hiergegen hatten Zeit Online und Handelsblatt geklagt. +++

+++ Er wurde wegen Mordes angeklagt, am Ende blieb eine zweijährige Bewährungsstrafe. Ein 85-Jähriger wollte mit seiner schwerkranken, dementen Ehefrau in den Tod gehen, überlebte jedoch selbst. Das Landgericht Köln hielt dem Mann zu Gute, dass er auch zum Ende einer „innigen Liebe“ an sich nur das Beste wollte. +++

+++ Die Neue Richtervereinigung (NRV) nimmt die neuen Pläne zur Vorratsdatenspeicherung „mit Befremden“ zur Kenntnis. Es gebe keine nachvollziehbaren Gründe für so eine Beschneidung der Bürgerrechte. Es sei „bedauerlich und kleinmütig“, auf die Überwachung aller Bürger zu setzen, heißt es in einem Statement der NRV-Fachgruppe Strafrecht. +++

+++ Ein Richter darf ermahnt und zu schnellerer Arbeit angehalten werden, wenn er deutlich weniger Fälle erledigt als seine Kollegen. Der Dienstgerichtshof für Richter in Stuttgart bestätigte, dass die Gerichtspräsidentin mit ihrer Ermahnung die richterliche Unabhängigkeit nicht verletzt hat. +++

Es kann doch nicht sein, dass …

Völlig zu Recht hat die Staatsanwaltschaft Berlin Ermittlungen gegen eine Lehrerin eingestellt, die im Musikunterricht das Hort-Wessel-Lied vorgespielt hatte. Ebenso wie sie ihren Schülern den „Kälbermarsch“ von Bertolt Brecht näher brachte, der das Horst-Wessel-Lied parodiert.

Das Ganze war Teil des Oberstufenunterrichts in Musik, wo nach dem Lehrplan auch „die Funktionalisierung von Musik im Dienste politischer, religiöser und wirtschaftlicher Interessen“ behandelt werden soll. Ein Berliner Lokalpolitiker hatte sich darüber empört und Strafanzeige erstattet.

Diese Anzeige entbehrt allerdings jeglicher Grundlage. Zwar fällt das Horst-Wessel-Lied als nationalsozialistische Hymne unter § 86a Strafgesetzbuch. Allerdings sind historische nationalsozialistische Symbole und Propagandamittel nicht schlechterdings verboten. So heißt es hierzu recht deutlich im Gesetz:

(Das) gilt nicht, wenn das Propagandamittel oder die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.

Der betreffende Politiker will diese Wertung des Gesetzes laut Spiegel Online aber nicht akzeptieren und erwägt eine „Es kann doch nicht sein, dass…“-Beschwerde.

Ein Autogramm vom Diktator

Mit einem Autogrammwunsch an den syrischen Diktator Assad hat ein 27-Jähriger aus dem Siegerland ungewollte Popularität erlangt. Seine Mail an Assad wurde, neben vielen anderen Dokumenten auch, von Wikileaks veröffentlicht und von Google indiziert.

Vor dem Landgericht Siegen verklagte der Autogrammsammler Google auf Löschung der Fundstellen mit seinem Namen. Es kam zu einem Vergleich: Google wird die Verweise löschen, übernimmt aber keine Haftung, wenn die Links wieder auftauschen.

Die Google-Zentrale muss dem Vergleich noch zustimmen.

Ein Autogramm hat der Sammler übrigens nie erhalten.

Bericht in der Legal Tribune Online

Fall Middelhoff: Wer hätte das ahnen können?

Das Landgericht Essen hat den Haftbefehl gegen Thomas Middelhoff außer Vollzug gesetzt. Vier Monate ist es her, dass der Ex-Arcandor-Chef bei der Verkündung seines Strafurteils im Gerichtssaal festgenommen wurde, nachdem er monatelang jeden Tag brav zur Verhandlung gekommen war.

Bekannt ist bislang: Middelhoff muss Auflagen erfüllen. Dazu gehören normalerweise Meldepflichten auf der Polizeiwache, die Abgabe von Reisepapieren. Middelhoff selbst hatte eine Kaution von 900.000 Euro angeboten. Weitere Einzelheiten nennt das Gericht nicht, da Middelhoff zuerst informiert werden müsse.

Interessant wird sein, warum in diesem Fall der Vollzug der Untersuchungshaft nun enden kann. Laut Presseberichten heißt es aus dem nordrhein-westfälischen Justizministerium, ausschlaggebend für die plötzliche Milde sei gerade nicht Middelhoffs Erkrankung. Sondern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, nach dem die Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur verhängten Strafe stehen darf. Bei Middelhoff also drei Jahre Gefängnis, ein eher kurze Zeit.

Sollte dies zutreffen, stellt sich die Frage, wieso es überhaupt zu einer Inhaftierung Middelhoffs kam. Denn auch dem Landgericht Essen war bei der Urteilsverkündung klar, dass vor einer möglichen Rechtskraft des Urteils fünf bis zwölf Monate vergehen werden. So lange braucht der Bundesgerichtshof nämlich normalerweise, um über Revisionen zu entscheiden. Wobei natürlich auch die Möglichkeit besteht, dass das Urteil wegen Fehlern aufgehoben wird.

Auch wenn das Urteil Bestand hat, könnnte Middelhoff bei guter Führung auf eine Entlassung nach der Hälfte seiner Strafe, spätestens nach zwei Dritteln hoffen. Also nach 18 bzw. 24 Monaten. Überdies hat er bei so einer relativ geringen Strafe beste Aussichten auf offenen Vollzug.

Dass Middelhoffs Untersuchungshaft geradezu zwangsläufig unverhältnismäßig wird, hätte man also problemlos absehen können. Insofern hat sich der „Zeitplan“ nicht geändert. Da stellt sich natürlich die Frage, wie eine Untersuchungshaft anfänglich für verhältnismäßig gehalten werden kann, wenn man schon von Anfang an sehenden Auges wissen konnte, dass sie bei normaler Entwicklung der Dinge unverhältnismäßig wird.

Das lässt sich dann nur so erklären, dass durch die bereits jetzt „verbüßten“ vier Monate der Fluchtanreiz irgendwie gemindert wurde, weil die Untersuchungshaft auf eine Haftstrafe angerechnet wird. So eine Argumentation ist aber bedenklich, weil ein faktischer Vorabvollzug kein Motiv für Untersuchungshaft sein darf – jedenfalls nicht aus rechtsstaatlicher Sicht. Sollte Middelhoff nämlich noch freigesprochen werden, kann ihm keiner die Monate wiedergeben.

Wenn Middelhoffs Erkrankung also keine Rolle spielen sollte, stellen sich eigentlich noch mehr Fragen als bei verschlechterter Gesundheit. Allerdings kann ich, wie wohl jeder Strafverteidiger auch, aus Erfahrung sagen: Diese Fragen werden auch in weniger prominenten Fällen, in denen es ganz ähnlich läuft, immer wieder gestellt. Antworten kriegt man allerdings fast nie.

Die schlichte Schönheit der Nebenabrede

+++ VDS 1: Wir kennen nur die offiziellen Leitlinien zur Vorratsdatenspeicherung. Aber es gibt wohl auch eine „Nebenabrede“, die man uns vorenthält. Dort steht zum angeblich strengen Richtervorbehalt was völlig anderes drin, berichtet netzpolitik.org. +++

+++ VDS 2: Noch liegt noch nicht mal ein Gesetzentwurf für die geplante Vorratsdatenspeicherung vor. Gleichwohl möchte die Regierungskoalition die zusätzliche Überwachung möglichst schnell verabschieden. Schon vor der Sommerpause könne das Gesetz unter Dach und Fach sein, heißt es. Der Grund für die Eile dürfte oben stehen. +++

+++ Das FBI hat in Gerichtsverfahren lange Zeit falsche Haaranalysen vorgelegt. Neuere DNA-Analysen belegen, dass eine unglaublich hohe Quote der Gutachten nicht zutraf. Betroffen sind auch Fälle, in denen Todesurteile verhängt und vollstreckt wurden. +++

+++ Die Piratenfraktion im schleswig-holsteinischen Landtag setzt sich dafür ein, dass bei Wahlen in den Wahlkabinen nur noch nicht radierbare Stifte ausgelegt werden. Gerade die Verwendung von radierbaren Bleistiften führt nach Angaben des Abgeordneten Patrick Breyer immer wieder zu Unverständnis der Wähler und auch zu Anfechtungen. Eine Expertenanhörung im Wahlausschuss ergab, dass auch im Norden Bleistiftes wohl bald ausgedient haben könnten. +++

Zermürbung à la Debcon

Sonst erzähle ich ja immer gerne, zu welchen schriftstellerischen Höchstleistungen sich das Bottroper Inkassobüro Debcon aufschwingt. In der Disziplin Bettelbriefe ist die Firma unangefochtene Königin (siehe hier und hier). Heute habe ich allerdings mal etwas anderes gemacht – nämlich eine Beschwerde gegen Debcon geschrieben.

Die Firma verschickt derzeit in Filesharing-Fällen „Saldenaufstellungen“ an vermeintliche Schuldner. Bei unserem Mandanten, der in der Tabelle sinnigerweise als „Forderungsinhaber“ aufgeführt wird, lautet der Saldo auf 322,10 Euro Schadensersatz.

Im Text findet sich dann folgender Hinweis:

Etwaige Einwendungen müssen unverzüglich schriftlich binnen 7 Werktagen bei der Debcon GmbH, Postfach 100345, 46203 Bottrop, geltend gemacht werden.

Solche Formulierungen kennt man von der eigenen Bank. Oder den Stadtwerken. Klar, dass dies so manchen Empfänger verunsichert. Und genau das ist natürlich auch Sinn der Aktion. Denn tatsächlich „muss“ der Empfänger in solchen Mahnverfahren gar nichts, schon gar nicht „unverzüglich“. Jedenfalls dann nicht, wenn er der Forderung anfangs einmal widersprochen hat. Das haben wir natürlich längst gemacht.

Die Taktik erinnert an die bislang so beliebten, aber letztlich juristisch ebenso inhaltsleeren Schufa-Drohungen. Denen haben diverse Gerichte in letzter Zeit den Hahn abgedreht.

Ich habe die Sache jetzt mal an das Oberlandesgericht Hamm geschickt. Das ist die Aufsichtsbehörde für Debcon.