Herrschaftswissen

Es ist erstaunlich, aber mir begegnen selbst heute noch Anwaltskollegen, welche die Ermittlungsakte im Strafverfahren gegen einen ihrer Mandanten als eine Art „Betriebsgeheimnis“ behandeln. Dabei rede ich nicht davon, die Ermittlungsakte an irgendwelche Medien oder interessierte Dritte durchzustechen. Sondern die Geheimhaltung gilt – so anscheinend die Auffassung der betreffenden Rechtsanwälte – gegenüber dem eigenen Mandanten.

Genau gesagt ist es nicht richtig, dass mir immer wieder die betreffenden Anwaltskollegen begegnen. Richtig ist vielmehr, dass ich dann mitunter Bekanntschaft mit ihren (Noch-)Mandanten mache. Nämlich dann, wenn die Mandanten sich nach anfänglichem Wundern und ein wenig Googeln nicht mehr damit abfinden wollen, dass ihr Anwalt die Ermittlungsakte ihnen gegenüber unter Verschluss hält.

Heute wurde mir mal wieder von solch einem Kollegen berichtet. Deshalb hier einmal in Kürze die Eckpunkte der Akteneinsicht:

Die Akteneinsicht durch den Verteidiger erfolgt nicht im luftleeren Raum, sondern im Interesse des Mandanten. Es ist heute unbestritten, dass sich aus dem Anwaltsvertrag eine Verpflichtung des Anwalts ergibt, dem Mandanten zumindest auf dessen Wunsch hin die Ermittlungsakte zugänglich zu machen. Am zweckmäßigsten geschieht dies in Form einer Kopie. Den Mandanten ins Kanzlei-Hinterzimmer zu beordern, wo er sich alles „mal anschauen“ kann, reicht nicht aus. Wenn der Anwalt die Ermittlungsakte seinem Mandanten verweigert, erfüllt er seine Dienstleistungspflicht unzureichend.

Wenn der Mandant die Akte sehen will, darf ihm der Anwalt das also nicht ausschlagen. Alles, was Mandanten hier mitunter zu hören bekommen, sind fadenscheinige Ausflüchte. Denn tatsächlich gibt es nur ganz wenige Fälle, in denen eine Weitergabe der Akte oder Teilen davon ausnahmsweise nicht zulässig ist.

Der wichtigste Fall sind kinderpornografische Schriften. Wenn sich einschlägige Bilder oder Videos als Beweismittel in der Akte befinden, dürfen diese nicht an den Mandanten ausgehändigt werden. (Der Mandant darf sie aber gemeinsam mit dem Anwalt in der Kanzlei in Augenschein nehmen, um den Tatvorwurf prüfen zu können.) Den reinen Textteil der Akte darf der Mandant aber auch in solchen Fällen komplett erhalten.

Darüber hinaus gibt es dann kaum noch Fälle, in denen ein Anwalt seinem Mandanten die Ermittlungsakte vorenthalten kann. Denkbar ist zum Beispiel, dass ein mutmaßliches Gewaltopfer eine neue Adresse hat, die dem Mandanten partout nicht bekannt werden sollte. Oder wenn sich sonstige Informationen ergeben, die der Mandant nicht haben soll. Der praktisch häufigste Fall ist, dass der Staatsanwalt vergessen hat, einen Haftbefehl gegen den Mandanten aus der Akte zu nehmen. Aber selbst hier muss man sich als Anwalt die Frage stellen, ob man sich letztlich wirklich verpflichtet fühlt, das Versäumnis des Staatsanwalts auszubügeln.

Schon die Beispiele zeigen, dass in 99,9 Prozent der Fälle eines klar ist: Als Mandant hat man keinen Grund, sich vom Anwalt die Ermittlungsakte vorenthalten zu lassen. Alle Gründe, die hierfür vorgebracht werden, sind schlicht und einfach vorgeschoben. Der tatsächliche Grund mag meist sein, dass unwissende Mandanten vielleicht weniger fragen und diskutieren, und ein wenig Herrschaftswissen kann ja sowieso nie schaden.

Dem Mandanten von heute morgen habe ich das auch alles so erklärt. Aber sein Anwalt meint weiter, dass nur er die Verfahrensunterlagen kennen sollte. Gut, dann fordere ich halt die Akte an. Das war es dann mit dem Herrschaftswissen – und wahrscheinlich auch seinem Mandat.