ERKANNT

Neben einem Kiosk wird eine Frau Opfer eines in der Öffentlichkeit unschönen Anblicks. Ein Mann befriedigt sich dort selbst. Die Staatsanwaltschaft geht sogleich davon aus, dass es sich um exhibitionistische Handlungen (§ 183 Strafgesetzbuch) handelt. Obwohl die Frau ausdrücklich erklärt, sie könne nicht sagen, ob der Mann sie damit belästigen wollte. Wenn der konkrete Bezug auf eine Person fehlt, läge höchstens Erregung öffentlichen Ärgernisses vor (§ 183a Strafgesetzbuch); das wird wesentlich milder bestraft. Aber man muss ja nicht jeden Paragrafen kennen.

Die Frau konnte den Täter nur vage beschreiben. Zwischen 23 und 40, eher dunkles Haar, wahrscheinlich kein Ausländer. Die Polizei fragte etwas in der Gegend rum. Und ließ sich von der Leiterin einer Kindertagesstätte erzählen, im Viertel gebe es einen bekannten Exhibitionisten namens Tobi.

Eine heiße Spur. Zumal Tobi, man will es kaum glauben,zufälligerweise zwischen 25 und 40 Jahr alt ist. Als sich dann herausstellte, dass er nicht blond ist, verdichtete sich die Spur zum dringenden Tatverdacht. Eine Fotovorlage sollte Klarheit bringen. Die Zeugin schaute sich mehrere Bildordner an, konnte aber beim besten Willen den Täter nicht entdecken.

Selbst als ihr der Polizeibeamte Tobis Bilder unter die Nase rieb, erklärte sie nur, vom Typ her treffe das schon zu. Die Person auf den Bildern sei wesentlich ungepflegter als der Täter. Sie glaube aber nicht, dass sie den Mann wiedererkennen könne. Immerhin habe sie ja geguckt, dass sie schnell weg kommt.

Mein Mandant streitet ab, irgend etwas gemacht zu haben. Die Anklage wegen exhibitionistischer Handlungen kommt trotzdem. Mit dem bemerkenswerten Satz, dass die Zeugin Tobi in der Hauptverhandlung wieder erkennen werde. Sie hat zwar das Gegenteil gesagt, aber das muss man ja nicht zur Kenntnis nehmen.

Sie wäre die erste Zeugin, deren Erinnerung mit der Zeit besser wird. Gefährlich ist die Sache trotzdem. Zeugen neigen nämlich dazu, Leute wieder zu erkennen, die sie schon mal auf Bildern gesehen haben. Vor allem, wenn derjenige einsam auf einer Anklagebank sitzt. Um das zu vermeiden, habe ich vorsorglich eine Gegenüberstellung beantragt.

Sechs ähnlich Männer müssten eigentlich reichen, um das dünne Konstrukt zum Einsturz zu bringen. Wenn das Gericht nicht doch noch die Notbremse zieht. Und die Anklage gar nicht zulässt.

Quelle: wulkan (www.wulkan-comic.de)