Angeklagter redet 14 Stunden

Das dürfte eines der längsten letzten Worte gewesen sein, die je ein Angeklagter vor einem deutschen Gericht gesprochen hat. 14 Stunden redete ein Angeklagter in Freiburg – wohl aus Angst vor dem anschließenden Urteil.

Wie die Südwest Presse berichtet, war das Gericht wohl sehr geduldig. Wahrscheinlich, um sich keinen Revisionsgrund einzuhandeln, denn das letzte Wort des Angeklagten ist wichtig im Strafprozess.

Genutzt hat es dem Angeklagten aber letztlich wohl nicht. Er wurde zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Ob das Urteil ohne sein extrem langes Schlusswort günstiger ausgefallen wäre, ist nicht bekannt.

(Danke an @farbenstau für den Link)

Getrennt von Mann und Hund

Vom Ehemann lebt sie getrennt, doch vom Hund will die Frau nicht lassen. Sie will mit ihm wenigstens zweimal die Woche jeweils vier Stunden lang Gassi gehen – und so den zweieinhalb Jahre alten Vierbeiner, wie das juristisch heisst, „nutzen“.

Doch dazu hat sie nach Auffassung der Gerichte kein Recht. Und bekommt genau deswegen auch keine Prozesskostenhilfe mit der sie eventuell ein Verfahren zu diesem Thema hätte finanzieren können. Schon im Grundsatz hat das Oberlandesgericht Hamm (OLG) somit alle Wünsche der Dortmunderin erstickt. Die meinte, der bei ihrem Mann lebende Hund gehöre zum „Hausrat“, auf den sie – gesetzlich untermauert – einen „zeitlich begrenzten“ Anspruch habe.

Das hatte schon das Amtsgericht Dortmund verneint. Dieser Ansicht folgte nun auch der 10. Senat für Familiensachen beim OLG (AZ: II-10 WF 240/10). Der während der Ehezeit angeschaffte Hund bleibt damit, wie es vereinbart gewesen sei, nach der Trennung beim Ehemann. Der muss ihn auch nicht für Stunden herausgeben.

Einerseits gehe es beim Hund nicht, wie etwa bei einem Kind, um „die Befriedigung“ von Gefühlen und damit „um das Wohl“ des Betreffenden. Andererseits könne, rein rechtlich gesehen, der Hund zwar zum „Hausrat“ gehören – der sei aber zwischen Frau und Mann doch schon aufgeteilt gewesen.

Da komme eine nachträgliche „Nutzung eines Hausratsgegenstandes“ auch für ein paar Stunden in der Woche nicht infrage. Bevor sich der Senat mit seiner vierseitigen, kühlen Auslegung aller Vorschriften den Vorwurf einer gewissen Herzlosigkeit aussetzt, gelingt ihm zum Schluss noch eine naheliegende Weisheit: Dem Paar bleibe es ja losgelöst von der Gerichtsentscheidung unbenommen, im Interesse des Tieres noch eine Vereinbarung zu treffen. (pbd)

Ausweiskontrolle ja, aber nicht auf dem Revier

Die Polizei darf einen Bürger, der sich mit einem gültigen Personalausweis ausweist, an dessen Echtheit keine konkreten Zweifel bestehen, nicht für eine Personenfeststellung auf das Polizeirevier mitnehmen und dort vorübergehend festhalten. Das hat der 1. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg entschieden.

Die Richter gaben damit der Berufung einer Freiburger Stadträtin statt, die sich gegen ihre Mitnahme auf die Polizeiwache wehrte. Das Verwaltungsgericht Freiburg hatte die Maßnahme noch für rechtmäßig angesehen.

Die Stadträtin war in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai in einer Gegend angetroffen worden, in der ein widerrechtliches Feuer angezündet und und mit Bierflaschen auf Polizisten geworfen worden sei. Wegen der Dunkelheit und des regen Kommens und Gehens im Bereich der Feuerstelle sei nicht klar gewesen, wie lange sich die Klägerin bereits am Feuer befunden habe und ob sie zu den Verantwortlichen für die Störungen gehörte. Die Polizei habe sie als „Anscheinsstörerin“ ansehen können, zumal sie eine Bierflasche in der Hand gehalten habe. Deshalb habe auch ihr Personalausweis kontrolliert werden dürfen.

Die Mitnahme der Frau auf das Polizeirevier und das Festhalten dort sei jedoch rechtswidrig gewesen. Die das Recht auf Freiheit der Person einschränkende „Sistierung“ sei nur zulässig, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden könne. Der mit der Sistierung verbundene Eingriff in die persönliche Freiheit dürfe nur erfolgen, wenn dies zur Feststellung der Identität unerlässlich sei.

Hier folge die Rechtswidrigkeit der Sistierung schon daraus, dass die Personenfeststellung bereits am Ort des Geschehens erfolgt sei. Die Klägerin habe den Polizeibeamten ihren gültigen Personalausweis ausgehändigt. Konkrete Anhaltspunkte für dessen eine Fälschung oder sonstige Unstimmigkeiten hätten nicht vorgelegen. Damit habe die Klägerin ihre Identität zweifelsfrei belegen können.

Ein Datenabgleich zum Zweck der Identitätsfeststellung sei daher nicht erforderlich gewesen. Selbst wenn ein Datenabgleich erforderlich gewesen wäre, hätte dieser an Ort und Stelle stattfinden müssen. Das Polizeigesetz gebe den Beamten in diesem Fall nämlich nur ein Anhalterecht.

(Urteil vom 14. Dezember 2010, Aktenzeichen 1 S 338/10)

Abmeldung

Aufmerksamen Lesern wird nicht entgangen sein, dass ich nun sieben Monate am Stück in dieses Blog geschrieben habe. Die sonst übliche Urlaubspause im Spätsommer fiel aus. Wenigstens gab es für diese Selbstkasteiung keinen triftigen, womöglich noch unangenehmen Grund.

Nun ist es aber wieder so weit. Wenn der Winter nicht zu unerbittlich zuschlägt, werde ich in Kürze auf dem Weg in deutlich sonnigere Gefilde sein. Ob und was bis zum Jahreswechsel hier im Blog erscheint, kann ich derzeit noch nicht absehen. Ich werde mich auf jeden Fall melden, wenn mir was Berichtenswertes auffällt oder ich tatsächlich mal den Mut habe, eine komplette Mahlzeit mit gerösteten Heuschrecken und frittierten Maden zu gestalten.

Ich wünsche allen Lesern zunächst mal möglichst wenig vorweihnachtlichen Stress. Ab dem 4. Januar 2011 geht es im law blog in gewohnter Weise weiter.

Massenfreisprüche, die Begründung

Mit Massenfreisprüchen mutmaßlicher Temposünder sorgt ein Herforder Amtsrichter für Aufsehen. Jetzt ist eines der ersten Urteile veröffentlicht worden (PDF). Im wesentlichen hat der Richter zwei Argumente:

1. Es gibt nach wie vor keine Ermächtigungsgrundlage für Blitzerfotos.

Aus Sicht eines Betroffenen stellt sich die Anwendung dieses „Terroristenparagraphen“ jedoch als justizpolitische Katastrophe dar. Es dürfte einem normalen Kraftfahrer nicht zu vermitteln sein, dass er bezüglich der Anfertigung von Bildaufnahmen auf die gleiche Stufe wie ein Schwerverbrecher gestellt wird.

2. Tempomessungen sind nur an Gefahrenstellen zulässig. In Wirklichkeit wird meist nur noch wegen des Geldes geblitzt.

Das erkennende Gericht hat in den letzten Jahrzehnten bisher kein einziges Mal erlebt, dass eine Bußgeldbehörde irgendwelche Überlegungen zum Grund und
Anlass der Geschwindigkeitsüberschreitung aktenkundig gemacht hat. Wenn
insoweit Polizeibeamte oder die Messbeamten der Kommunalbehörden als Zeugen befragt wurden, kamen stets vage Auskünfte, es gebe dort einen „Unfallschwerpunkt“. Konkrete Einzelheiten dazu konnten die Zeugen jedoch niemals benennen.

(Danke an Dietz V. für den Hinweis)

Olaf Tank beendet Abzockmandate

Der berüchtigte Inkasso-Anwalt Olaf Tank ist nicht mehr für seine prominentesten Mandanten tätig. Er hat nach eigenen Angaben die Mandate für die Redcio OHG, die Content Services Ltd. und die Antassia GmbH niedergelegt. Bei allen Firmen handelt es sich um emsig tätige Anbieter von sogenannten Abofallen.

Den Ausstieg Tanks bestätigt die Anwaltskanzlei selbst, unter anderem über die auf der Homepage Forderungseinzug.de angegebene Telefonnummer. Der Anschluss gehört zur Kanzlei Tanks in Osnabrück. Dort kommt, wovon ich mich gerade selbst überzeugt habe, eine Ansage, dass Olaf Tank für die Internetabzocker nicht mehr tätig ist. Anrufer sollen sich direkt an den Kundensupport der jeweiligen Mandanten wenden.

Erst vor kurzem wurden immer mehr Urteile bekannt, die Tank persönlich zur Übernahme von Anwaltskosten der Abzockopfer verurteilten. Die Gerichte gingen dabei davon aus, dass der Jurist sehr gut weiß, dass die Abofallenabzocker keinen juristisch durchsetzbaren Anspruch auf ihre angebliche Vergütung haben. Dies sei Beihilfe zum Betrug, so dass Tank selbst neben seinen Mandanten schadensersatzpflichtig ist.

Gegen den Osnabrücker Anwalt sollen nach Presseberichten über 4.000 Strafanzeigen vorliegen.

Ob die betroffenen Firmen schon andere Anwälte am Start haben, ist noch nicht bekannt.

Programmhinweis

Ich muss morgen für einen Samstag etwas früher aufstehen. Ab 11 Uhr bin ich zu Gast bei DRadio Wissen in Köln. In der Sendung „Online Talk“ plaudere ich eine knappe Stunde mit Michael Gessat und Andreas Noll über aktuelle Themen aus der Netzwelt.

Vorranging geht es um WikiLeaks, dann vielleicht noch über Sinn und Unsinn des neuen Jugendschutzes fürs Internet. Außerdem stelle ich ein paar meiner jugendfreien Lieblingslinks vor.

Nähere Infos hier.

Mannheimer Programm

Das Landgericht Mannheim hat etliche neue Verhandlungstermine im Verfahren gegen Jörg Kachelmann anberaumt. Sehr schön finde ich, dass zumindest die Pressestelle mittlerweile das Verfahren richtig bewertet und das unbestreitbare Showelement durch feine Nuancen in der Wortwahl herausstellt:

Über den Fortgang des Verfahrens – insbesondere zum beabsichtigten Programm an den einzelnen Hauptverhandlungstagen – werden Sie wie bisher rechtzeitig im Rahmen schriftlicher Pressemitteilungen unterrichtet werden.

Boy, do we need it now!

(Danke an Hans A. für den Hinweis)

Mehrfach in der Vergangenheit

Es war ordentlich Arbeit, aber am Ende wurde mein Mandant von der Untersuchungshaft verschont. Bei der Polizei stieß das nicht gerade auf Begeisterung, wie ich jetzt der Akte entnehme.

Im Abschlussbericht weist der zuständige Kommissar mehrfach auf das „erhebliche Maß krimineller Energie“ bei meinem Mandanten hin und darauf, dass dieser seine Gewaltbereitschaft verharmlose.

Darüber kann man ja reden. Aber nicht über ein weiteres Argument, das in diesem Zusammenhang gegen meinen Mandanten vorgebracht wird:

Weiterhin hat der Beschuldigte in der Vergangenheit wiederholt Einrichtungen des sogenannten „Rotlichtmilieus“ aufgesucht.

Da muss der Frust schon sehr tief sitzen.

PR-Stunts in Mannheim

Was nützt es dem Angeklagten? fragt Gisela Friedrichsen auf Spiegel online. Sie meint die harsche Gangart, welche Jörg Kachelmanns neuer Verteidiger Johann Schwenn eingeschlagen hat.

Es ist schon bemerkenswert, dass Schwenn heute in der Hauptverhandlung fordert, Zeitungsredaktionen zu durchsuchen. Selbst wenn er wirklich ernsthaft davon ausgeht, dass bei Focus oder Bunte entlastendes Material über Jörg Kachelmann lagert, hätte er die Aktionen vielleicht besser im Stillen angeregt und versucht, das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung von so einem Beschluss zu überzeugen.

Es war sicher interessant und erheiternd zu sehen, wie die angegriffenen Journalisten im Gerichtssaal notierten, dass Schwenn sie gerade zum Ziel strafprozessualer Maßnahmen erkor. Es hat schon seinen Grund, warum Ermittlungsrichter ihre Beschlüsse nicht an die Gerichtstafel heften. Das weiß natürlich auch Schwenn. Wenn er trotzdem solche PR-Stunts hinlegt, drängt sich die Frage auf, ob er womöglich nichts Substanzielles für seinen Mandanten in der Hand hat und sein Heil lieber in, ich sage es mal offen, unwürdigem Getöse sucht.

Insgesamt scheint der Anwalt nämlich darauf geeicht, Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen. So hatte er schon, ebenfalls reichlich unorthodox, vor Tagen gefordert, den Aktenkoffer eines Sachverständigen zu beschlagnahmen. In dem Koffer, den der Betroffene freiwillig übergab, konnten dann einige nicht weiterführende Unterlagen und eine Brotdose bewundert werden.

Heute giftete Schwenn dann noch den Düsseldorfer Ex-Richter Steffen an, der als Zeugenbeistand erschien und dabei eine Robe trug. Friedrichsen schildert die Szene so:

„Vielleicht sollten Sie dem jungen Kollegen sagen – er ist ja jung in seiner Rolle – , dass man als Beistand nicht in Robe auftritt!“

Und als Steffen dann auch noch zu einer Erklärung ansetzte, fuhr Schwenn hoch: „Herr Vorsitzender! Bitte etwas weniger Solidarität mit einem ehemaligen Kollegen! Herr Steffen hat kein Erklärungsrecht! Unterbinden Sie das, Herr Vorsitzender!“

Es war ein an Peinlichkeit kaum zu überbietender Moment.

Und was nützt es Kachelmann?

Nichts.

Turbo für den Karrierestart

Vor dem Amtsgericht Düsseldorf musste sich ein 32-jähriger Jurist wegen Betrugs verantworten. Der Mann hatte nach erfolglosen Bewerbungen mit seiner Examensnote „ausreichend“ die Note in „voll befriedigend“ geändert. So sicherte er sich einen vielversprechenden Karrierestart.

Im Mai 2009 versuchte der Mann sein Glück bei einer Großkanzlei in Düsseldorf. Dort winkten 100.000 Euro Einstiegsgehalt. Allerdings war dem Juristen bekannt, dass er mit seinem „ausreichend“ kaum Chancen hatte, überhaupt zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden.

Also änderte er seine Note auf dem Zeugnis in „voll befriedigend“, was als Prädikatsexamen gilt. Die Großkanzlei war angetan und stellte den Bewerber ein. Allerdings dauerte es nicht lange, bis er wegen schlechter Leistungen und mangelhafter Englischkenntnisse Argwohn weckte.

Die Vorgesetzten des Juristen fragten beim Prüfungsamt der Universität Rostock nach. Es folgte ein Aufhebungsvertrag, in dem sich der Junganwalt auch verpflichtete, das gesamte bisher gezahlte Gehalt (75.000 Euro) zu erstatten.

Der 32-Jährige bewarb sich aber trotzdem weiter mit der falschen Examensnote. Eine Stadtverwaltung in Nordrhein-Westfalen machte ihn zum Leiter des Personalamtes. Als sich die Staatsanwaltschaft nach drei Monaten im August 2010 bei der Stadtverwaltung meldete, kam auch der neue Schwindel ans Licht.

Das Amtsgericht Düsseldorf verurteilte den Hochstapler nun zu zehn Monaten Haft auf Bewährung. Der Angeklagte war, so der Strafrichter, einsichtig und geständig. Er versprach vor Gericht insbesondere, sich nur noch mit seinem echten Zeugnis zu bewerben.

Das Kind im Manne

Das Kind im Manne war es wohl. Es erwachte vor knapp einem Jahr bei einem Erwachsenen, der mit seiner Familie im Schnee unterwegs war. Er rodelte einen Hang im Bochumer Stadtpark hinunter, stürzte über eine verborgene Mauerschwelle, brach sich kompliziert den Ellenbogen und verlangte von der Stadt Schmerzensgeld und Schadensersatz. Mit dieser Klage aber blieb er auch in zweiter Instanz vor dem Oberlandesgericht Hamm erfolglos (AZ: I-9 U 81/10).

Der 9. Zivilsenat entschied, die Stadt sei nicht verpflichtet, auf einen Huckel am verschneiten Hangs hinzuweisen oder gar die Schräge zu sperren. Damit verweigerte das Gericht immerhin 55.000 Euro Schmerzensgeld. Der Mann bekommt auch keinen Schadensersatz, den er mit 3.600 Euro beziffert hatte.

Nach Ansicht des Gerichts ist die Rodelfläche als Park konzipiert, für den Mauerabgrenzungen typisch sind. Außerdem treffe den Kläger ein überwiegendes Mitverschulden. Er hätte nicht darauf vertrauen dürfen, dass jeder Hang durchgängig befahrbar ist. Vielmehr habe er den den Schlitten stets kontrollieren und sich auf Unebenheiten im Boden einstellen müssen. (pbd)

Kriegsgerät Serverplatz

Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich. Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muß er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung. In ihr artikuliert sich die öffentliche Meinung.

Bundesverfassungsgericht, Spiegel-Urteil vom 5. August 1966

Die vorstehenden vier Sätze sind mittlerweile 44 Jahre alt. Dennoch beinhalten sie eigentlich alle Antworten auf die Fragen, die sich uns Deutschen in der WikiLeaks-Debatte stellen.

Eine Frage wäre zum Beispiel, warum deutsche Politiker trotz der Steilvorlagen aus den USA merkwürdig zurückhaltend darin sind, die Redakteure des Spiegel, welche die US-Diplomatendepeschen dem deutschen Publikum näherbringen, in die Nähe des Cyber-Terrorismus oder Landesverrats zu rücken.

Ganz einfach, weil sie wissen, dass sich jeder, der es nach Franz-Josef Strauß erneut versuchte, eine blutige Nase geholt hat. Zuletzt waren das jene Ermittler, welche die Cicero-Redaktion filzten, weil sie so auf die Spur eines Maulwurfs beim Bundeskriminalamt kommen wollten. Beihilfe zum Geheimnisverrat wurde den Cicero-Journalisten vorgeworfen. Ein übles Konstrukt schon deswegen, weil Geheimnisverrat nur ein Staatsdiener begehen kann. Das hat das Bundesverfassungsgericht dann auch in einer erneuten Grundsatzentscheidung zur Pressefreiheit sehr schmerzlich für die Verantwortlichen seziert.

Die Karlsruher Richter stellten klar, dass Durchsuchungen und Beschlagnahmen bei Presseangehörigen unzulässig sind, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienen, die Person des Informanten zu ermitteln (Cicero-Urteil vom 27. Februar 2007).

Das sind Marksteine.

Aber darüber hinaus findet sich von der Spiegel-Affäre bis Cicero in allen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Thema die klare Ansage, dass die Presse sich gerade auch auf Informationen stützen darf, denen vordergründig der Makel des Illegalen anhaftet. Es gibt schlicht kein Berichterstattungsverbot über zugespielte Papiere aus Ministerien, Fraktionen, Geheimdiensten oder Polizeibehörden, mögen diese auch doppelt und dreifach als „vetraulich“ oder sogar „geheim“ gestempelt sein.

Aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist deutlich zu lesen, dass die Presse ihrer Rolle als 4. Gewalt überhaupt nur dann gerecht wird, wenn sie nicht nur Pressemitteilungen aus Politik, Verwaltung und Gerichten abnudelt. Nein, sie kann und soll den anderen Gewalten auf die Füße treten, indem sie gerade Informationslecks nutzt, um auch die unbequemen Dinge ans Licht zu bringen. Damit erst befriedigt die Presse den Anspruch des Bürgers auf „umfassende Information“, und zwar über den wahren Zustand der Gesellschaft, in der er lebt. Die Pressefreiheit umfasst auch die gesamte Verwertungskette. Informanten- und Quellenschutz sind deshalb keine Phrasen aus Agentenfilmen, sondern handfeste juristische Realität.

So wie niemand die Redakteure des Spiegel für ihre „Enthüllungen“ einbuchten kann, so wenig könnte man es in Deutschland mit den Machern von WikiLeaks machen.

Die einzige Unsicherheit wäre die Frage, ob WikiLeaks wirklich „Presse“ ist. Daran besteht für mich aber kein Zweifel. Zwar beschränkt sich die Tätigkeit von WikiLeaks auf die Dokumentation. Aber gerade die Dokumentation ist eine der Kernaufgaben des Journalismus. Zudem ändern sich die Zeiten. Das Internet ermöglicht nun mal erst einen ganz neuen Journalismus durch Fakten. Denn hier gibt es anders als bei Printmedien keine Obergrenzen für die Informationsmengen und auch keine Begrenzung des Publikums. WikiLeaks hat das als erstes begriffen, es kongenial umgesetzt und sich so wahrscheinlich zum weltweit derzeit meistbeachteten und vermutlich auch wichtigsten Medium überhaupt gemacht.

Die Reaktion der Politik spricht ja ohnehin für sich.

Das Land, aus dem die Botschaftsdepeschen stammen, ist dummerweise an sich auch noch Hort der nahezu unbegrenzten Meinungsfreiheit. Aber statt hierauf stolz zu sein, die Sache entsprechend sportlich zu nehmen und allenfalls im Stillen mit den Zähnen zu knirschen, fordern US-Politiker und sogar Zeitungsjournalisten offen den Tod des Frontrunners Julian Assange, die Einstufung von WikiLeaks als terroristische Organisation und ein Gesetz, das kurz mal jedes Whistleblowing zum Nachteil der USA unter drastische Strafen stellt.

Überdies dürfte auch erst staatlicher Druck dazu geführt haben, dass Privatunternehmen wie Amazon, PayPal, Mastercard und jetzt auch Visa WikiLeaks den Speicherplatz entziehen und Zahlungswege austrocknen. Was wegen der noch geltenden Meinungsfreiheit wahrscheinlich kein US-Gericht abgesegnet hätte, wird so über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Unternehmen durchgesetzt. Dieses nicht mal ernsthaft kaschierte Foul Play dürfte die USA langfristig wahrscheinlich mehr Sympathie kosten, als sie durch die ohnehin nicht mehr zu stoppenden Botschaftsdepeschen jemals verlieren konnten.

Wenn es noch munter weiter geht, könnten sich vielleicht sogar dramatische Visionen erfüllen. Zum Beispiel jene, wonach WikiLeaks der Auslöser eines Krieges sein könnte, der auf dem Schlachtfeld Internet ausgetragen wird. Auf der einen Seite die Front von Regierungen und Unternehmen, welche den Kontrollverlust über das Internet rückgängig machen wollen. Auf der anderen Seite ihre eigenen Bürger, die sich das nicht gefallen lassen und ihrerseits zu den Waffen greifen – Tastatur, Technikverstand, Datenleitungen und Speicherplatz.

Der Aufruf WikiLeaks, die Seite auf möglichst vielen Rechnern gleichzeitig verfügbar zu machen, könnte als erste echte Mobilmachung auf der nichtstaatlichen Seite dieses Konflikts in die Geschichte eingehen. Die Frage nach den Risiken der Fußsoldaten in diesem Fall ist aus meiner Sicht recht einfach zu beantworten. Es gibt keine nennenswerten, sofern man damit leben kann, vielleicht kein Visum mehr für die USA zu kriegen.

Mancherorts wird ja sogar geraunt, wer WikiLeaks hilft, könne sich möglicherweise strafbar machen, weil er Staatsgeheimnisse verrät oder gar Landesverrat begeht. Hier hilft noch mal ein Blick zurück. Auch der Spiegel zitierte in seinem historischen Titel „Bedingt abwehrbereit“ aus regierungsinternen Dokumenten. Die Verfassungsrichter diskutierten zwar die Möglichkeit, dass hierdurch die äußere Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet wurde, sie sahen aber schon gar keine Vorsatz bei Rudolf Augstein und seinen Redakteuren in Richtung eines Landesverrats.

So dürfte es auch bei den WikiLeaks-Dokumenten sein. Es geht den Beteiligten vorrangig um die Aufdeckung von Missständen und (unbekannten) politischen Mechanismen, nicht aber darum, der Sicherheit eines Staates einen schweren Nachteil zuzufügen. Wobei noch dazu zu sagen ist, dass die Stoßrichtung der einschlägigen Strafvorschriften auf Handlungen zum Nachteil Deutschlands geht. Die USA oder Frankreich werden höchstens über die internationale Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts erfasst. Dafür bedarf es schon einiger juristischer Klimmzüge. Cicero lässt grüßen.

Ein Staatsgeheimnis ist auch nur so lange ein Staatsgeheimnis, wie es geheim ist. Bereits veröffentlichte Informationen sind deshalb kein Geheimnis mehr. Außerdem stellt sich die Frage, ob jemand, der Serverplatz zur Verfügung stellt, sich die Inhalte des Nutzers überhaupt zu eigen macht und persönlich dafür haftet. Nach deutschem Recht wird man durch Beherbergung fremder Daten Provider. Als solcher haftet man zunächst mal ebensowenig für die Inhalte seines „Kunden“ wie der kommerzielle Provider, bei dem der Server angemietet ist.

In diesem Zusammenhang darf man durchaus den Hut vor jenen deutschen Providern ziehen, die nicht den Weg von Amazon, Paypal, Mastercard und Visa gehen. Etliche Provider haben heute ausdrücklich erklärt, dass sie Kunden nicht deshalb den Vertrag kündigen werden, weil diese WikiLeaks unterstützen.

Wer sich das Providerprivileg nicht selbst verhageln möchte, sollte seinem „Gast“ möglichst freie Hand auf dem Server geben. Wer dagegen eigenständig entscheidet, welche Inhalte der „Gast“ auf dem Server ablegen darf, macht sich durch Prüfung und Freigabe dessen Inhalte zu eigen. Das führt dann entsprechend schnell zu eigener Haftung.

Bleibt als Unsicherheitsfaktor noch das Urheberrecht. Zumindest fürs nichtbetroffene Publikum wäre es natürlich eine reizvolle Vorstellung, dass Hillary Clinton am Landgericht Hamburg klagt. Es dürften aber noch erhebliche Rückschläge für die US-Administration nötig sein, bevor sie sich auf dieses glatte Terrain begibt. Rutschgefahr deswegen, weil Behördendokumente in den USA und Deutschland urheberrechtlich viel weniger geschützt sind, sagen wir, das Drehbuch für die Fernsehserie „24“.

Das ist kein Aufruf, in den Krieg zu ziehen. Aber auch keine Warnung davor.