Bundestag musste gefragt werden

Für den Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen der NATO zur Luftraumüberwachung über dem Hoheitsgebiet der Türkei im Frühjahr 2003 hätte die Bundesregierung die Zustimmung des Deutschen Bundestags einholen müssen. Dies entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 7. Mai 2008.

Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte greift ein, wenn nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist. Diese Voraussetzungen lagen hier vor. Mit der Luftraumüberwachung der Türkei in AWACS-Flugzeugen der NATO haben sich deutsche Soldaten an einem Militäreinsatz beteiligt, bei dem greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen bestanden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 12. Juli 1994
aus dem Gesamtzusammenhang wehrverfassungsrechtlicher Vorschriften
des Grundgesetzes und vor dem Hintergrund der deutschen
Verfassungstradition dem Grundgesetz ein allgemeines Prinzip
entnommen, nach dem jeder Einsatz bewaffneter Streitkräfte der
konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Deutschen
Bundestags bedarf. Die in Art. 24 Abs. 2 GG enthaltene Ermächtigung
zur Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit
bildet danach die verfassungsrechtliche Grundlage für die Beteiligung
der Bundeswehr an Einsätzen außerhalb des Bundesgebiets, soweit diese
im Rahmen und nach den Regeln eines solchen Systems erfolgen. Der
Deutsche Bundestag muss nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der
Vertragsgrundlage eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit
zustimmen. Die Konkretisierung des Vertrags, die Ausfüllung des mit
ihm niedergelegten Integrationsprogramms ist dagegen Aufgabe der
Bundesregierung. Die deutsche Mitwirkung an der strategischen
Gesamtausrichtung und an der Willensbildung über konkrete Einsätze
des Bündnisses liegt damit ganz überwiegend in den Händen der
Bundesregierung.

2. Die bündnispolitische Gestaltungsfreiheit der Bundesregierung
schließt aber nicht die Entscheidung ein, wer innerstaatlich darüber
zu befinden hat, ob sich Soldaten der Bundeswehr an einem konkreten
Einsatz beteiligen, der im Bündnis beschlossen wurde. Wegen der
politischen Dynamik eines Bündnissystems ist es umso bedeutsamer,
dass die größer gewordene Verantwortung für den Einsatz bewaffneter
Streitkräfte in der Hand des Repräsentationsorgans des Volkes liegt.
Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt stellt insoweit ein
wesentliches Korrektiv für die Grenzen der parlamentarischen
Verantwortungsübernahme im Bereich der auswärtigen Sicherheitspolitik
dar. Der Deutsche Bundestag ist bei Einsatz bewaffneter Streitkräfte
zur grundlegenden, konstitutiven Entscheidung berufen, ihm obliegt
die Verantwortung für den bewaffneten Außeneinsatz der Bundeswehr.
Angesichts der Funktion und Bedeutung des wehrverfassungsrechtlichen
Parlamentsvorbehalts darf seine Reichweite nicht restriktiv bestimmt
werden. Vielmehr ist der Parlamentsvorbehalt im Zweifel
parlamentsfreundlich auszulegen. Wenn und soweit dem Grundgesetz eine
Zuständigkeit des Deutschen Bundestags in Form eines
wehrverfassungsrechtlichen Mitentscheidungsrechts entnommen werden
kann, besteht gerade kein eigenverantwortlicher Entscheidungsraum der
Bundesregierung. Der Parlamentsvorbehalt ist Teil des Bauprinzips der
Gewaltenteilung, nicht seine Durchbrechung.

3. Ein unter dem Grundgesetz nur auf der Grundlage einer konstitutiven
Zustimmung des Deutschen Bundestags zulässiger Einsatz bewaffneter
Streitkräfte liegt vor, wenn deutsche Soldaten in bewaffnete
Unternehmungen einbezogen sind. Für den wehrverfassungsrechtlichen
Parlamentsvorbehalt kommt es nicht darauf an, ob bewaffnete
Auseinandersetzungen sich schon im Sinne eines Kampfgeschehens
verwirklicht haben, sondern darauf, ob nach dem jeweiligen
Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen
Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist. Die bloße Möglichkeit,
dass es bei einem Einsatz zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt,
reicht hierfür nicht aus. Erst die qualifizierte Erwartung einer
Einbeziehung in bewaffnete Auseinandersetzungen führt zur
parlamentarischen Zustimmungsbedürftigkeit eines Auslandseinsatzes
deutscher Soldaten. Hierfür bedarf es zum einen hinreichender
greifbarer tatsächlicher Anhaltspunkte, dass ein Einsatz nach seinem
Zweck, den konkreten politischen und militärischen Umständen sowie
den Einsatzbefugnissen in die Anwendung von Waffengewalt münden kann.
Zum anderen bedarf es einer besonderen Nähe der Anwendung von
Waffengewalt. Danach muss die Einbeziehung unmittelbar zu erwarten
sein. Ein Anhaltspunkt für die drohende Einbeziehung deutscher
Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen besteht, wenn sie im
Ausland Waffen mit sich führen und ermächtigt sind, von ihnen
Gebrauch zu machen.

Die Frage, ob eine Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
Unternehmungen besteht, ist gerichtlich voll überprüfbar. Ein vom
Bundesverfassungsgericht nicht oder nur eingeschränkt nachprüfbarer
Einschätzungs- oder Prognosespielraum ist der Bundesregierung hier
nicht eröffnet.

4. Nach diesem Maßstab war die Beteiligung deutscher Soldaten an der
Luftraumüberwachung der Türkei durch die NATO vom 26. Februar bis zum
17 April 2003 ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte, der nach dem
wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt der Zustimmung des
Deutschen Bundestags bedurfte. Mit der Luftraumüberwachung der Türkei
in AWACS-Flugzeugen der NATO haben sich deutsche Soldaten an einem
Militäreinsatz beteiligt, bei dem greifbare tatsächliche
Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung in bewaffnete
Auseinandersetzungen bestanden. Die eingesetzten AWACS-
Aufklärungsflugzeuge waren Teil eines Systems konkreter militärischer
Schutzmaßnahmen gegen einen befürchteten Angriff auf das
Bündnisgebiet der NATO. Die Überwachung des türkischen Luftraums
hatte von Beginn an einen spezifischen Bezug zu einer aufgrund
konkreter Umstände für möglich gehaltenen militärischen
Auseinandersetzung mit dem Irak. Auf eine solche Auseinandersetzung
hatte sich die NATO spätestens ab dem 18. März 2003 ernsthaft
eingestellt, weil der Beginn der Kampfhandlungen im Irak allgemein
erwartet wurde. Es bestand ersichtlich mehr als eine lediglich
abstrakte Möglichkeit bewaffneter Auseinandersetzungen. Es lagen
vielmehr greifbare tatsächliche Anhaltspunkte vor, nach denen die
Verwicklung der NATO in eine militärische Auseinandersetzung zu
erwarten war.

Eine Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
Auseinandersetzungen war auch unmittelbar zu erwarten. Spätestens mit
den aufgrund der Lageverschlechterung erweiterten Einsatzregeln hing
die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
Auseinandersetzungen nur noch davon ab, ob und wann der Irak einen
Angriff auf die Türkei unternehmen würde.