Am liebsten ein Leitz-Ordner

Der Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss hat kinderpornografisches Material besessen. Das streitet er nicht ab. Aber, sagt Tauss, seine Aktivitäten in einem Tauschring seien nicht strafbar gewesen. Er habe im Rahmen seiner Tätigkeit als Abgeordneter gehandelt und versucht, sich über die Thematik aus erster Hand zu informieren.

Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Schriften sind in § 184b Strafgesetzbuch geregelt. Absatz 5 der Vorschrift enthält eine Ausnahmeregelung. Diese Klausel ist verständlich formuliert:

Die Absätze 2 und 4 gelten nicht für Handlungen, die ausschließlich der Erfüllung rechtmäßiger dienstlicher oder beruflicher Pflichten dienen.

In der eher dürftigen strafrechtlichen Literatur zu dem knappen Satz wird ausdrücklich erwähnt, dass die Vorschrift nicht nur verdeckte Ermittlungen der Polizei erfasst. Vielmehr sei auch die Tätigkeit von Anwälten, Sachverständigen, Ärzten oder Wissenschaftlern umfasst, bei denen der Umgang mit der Kinderpornografie unerlässlich sei.

Die Aufzählung ist nicht abschließend. Das ist unschwer zu erkennen. Wie steht es also um einen Bundestagsabgeordneten?

Der Abgeordnete ist zunächst Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen (Artikel 38 Grundgesetz). Das ist ein ganzer Tick mehr als bei den gemeinhin als ziemlich frei angesehenen Richtern. Diese sind zwar auch unabhängig, aber immerhin „dem Gesetz unterworfen“ (Artikel 97 Grundgesetz).

Aus der Verpflichtung nur gegenüber dem Volk darf man jetzt nicht schließen, der Abgeordnete müsse keine Gesetze achten. Die Gesetze gelten auch für ihn. Sehr wohl kann man aber daraus schließen, dass er einen „dienstlichen“, nämlich einen verfassungsrechtlichen Auftrag hat, dem Volk im Rahmen des parlamentarischen Systems zu dienen. Wobei der Abgeordnete in erster Linie an der Gesetzgebung mitwirkt, also zum Beispiel auch an der Ausgestaltung des Strafrechts. Also zum Beispiel auch an der Frage, ob und wie Vertrieb, Erwerb und Besitz von Kinderpornografie bestraft werden muss.

Dass einem freien Abgeordneten dann auch zugestanden werden muss, sich über die Themen möglichst lebensnah zu informieren, zu denen er Gesetze erlässt, halte ich für naheliegend. Offensichtlich haben auch die Ermittler in Karlsruhe, die gegen Jörg Tauss vorgehen, nicht (mehr) die Neigung, die Ausnahmevorschrift zu ignorieren. Im an den Spiegel geleakten Abschlussbericht, ob von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft bleibt offen, soll stehen, man habe keine Hinweise gefunden, dass das aufgefundene Material im Zusammenhang mit der Abgeordnetentätigkeit von Tauss stehe.

Da stellt sich die Frage, wie solche Hinweise denn nach den Vorstellungen eines Staatsanwalts auszusehen hätten. Ein ordentlich ins Abgeordnetenbüro eingestellter Leitz-Ordner wäre gut, eine Spannmappe mit der Aufschrift „Kinderporno-Ermittlungen“ sollte es aber zumindest sein?

Anders gefragt: Sind fehlende Bezüge zur Abgeordnetentätigkeit ein Beleg dafür, dass Tauss privat Kinderpornos gesammelt hat? Oder müsste ihm nicht eher eben dies positiv nachgewiesen werden? Was zählt, wenn es eben in die eine oder andere Richtung keine eindeutigen Belege gibt, letztlich das Wort von Tauss? Und welche Rolle spielt ganz am Ende, wenn es eben nur magere Indizien in die eine wie die andere Richtung gibt, der auch für den Abgeordneten gültige Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“?

Kaum tauglich scheint das ebenfalls erwähnte Argument, es gebe keine Belege, dass Tauss die Ergebnisse seiner Tätigkeit veröffentlichen wollte. Natürlich wäre es für Tauss sehr entlastend, wenn sich in seinem Computer der Entwurf eines Berichts an wen und für wen auch immer zu dem Thema gefunden hätte. Aber ist das Fehlen eines solchen Veröffentlichungswillens (Tauss sagt selbst, er wollte nichts veröffentlichen) ein Beleg dafür, dass Tauss nicht „dienstlich“ handelte?

Die Strafverfolger in Karlsruhe bewegen sich offensichtlich auf dünnem Eis. Natürlich kann es halten. Sie können aber auch ganz schnell eine frostige Erfahrung machen. Und am Ende als diejenigen dastehen, die nicht nur durch Ermittlungen, sondern auch durch dreiste, kampagnenartige Öffentlichkeitsarbeit einen Menschen ins Abseits gedrängt haben.

Eine im Spiegel erwähnte Tatsache spricht jedenfalls eher für den Abgeordneten Jörg Tauss. 356 Bilder und 59 Videoclips sind nicht die Menge, die man gemeinhin bei Kinderpornokonsumenten findet. Das ist, im Vergleich zu „normalen“ Fällen, wenig. Darauf weist Tauss‘ Anwalt zu Recht hin.