Von der Polizeiwache in die Ordnungshaft

Es löst jedes Mal Verwunderung aus, wenn ich folgendes zum richtigen Verhalten gegenüber der Polizei sage: Kein Zeuge ist verpflichtet, bei einem Polizeibeamten eine Aussage zu machen. Er muss nicht an an Ort und Stelle Angaben zur Sache machen. Auch nicht, wenn er nachts aus dem Bett geklingelt wird. Er kann Vorladungen ignorieren. Und er kann, wenn er denn möchte, bei ihm klingelnden Polizisten die Tür vor der Nase zuschlagen.

Nur eines darf ein Zeuge der Polizei nicht verweigern, aber das ist nun wirklich nicht viel: seine Personalien. Tut er es nicht, ist das aber nur eine Ordnungswidrigkeit.

Dass Polizeibeamte gegenüber Zeugen praktisch keinerlei Rechte haben, ist weitgehend unbekannt. Insbesondere auch unter Polizeibeamten. Ich führe in schöner Regelmäßigkeit diese Diskussionen, gerade mit Kripo-Kommissaren. Während ihre Kollegen beim Verkehrsdienst sich natürlich nicht wundern, wenn sie von schriftlich vorgeladenen Zeugen von Verkehrsunfällen nichts hören, muss es aus Sicht der Kriminaler immer schnell schnell gehen.

Da wird zum Beispiel bei der Hausdurchsuchung in einer Firma das Personal informiert, jeder Mitarbeiter der Abteilung werde gleich im Zimmer des Chefs vernommen. Natürlich ohne den Chef. Dabei wird alles getan, um den Eindruck zu erwecken, dass man sich als Zeuge dem nicht entziehen kann. Die Strategie ist klar: Wenn ein Zeuge vor Ort nicht aussagt, hat er Zeit zum Überlegen, Wikipedia und/oder einen Anwalt zu konsultieren. Dann wird das nichts mehr mit der erhofften Direktbelastung der Chefetage.

So gibt es tatsächlich auch genug Kripobeamte, die selbst gegenüber einem Anwalt empört darauf hinweisen, sie seien von der Kripo, der Zeuge sei ein Zeuge und deshalb müsse er jetzt aussagen. Die den Anwalt also für dumm verkaufen wollen. Oder, sicher die seltenere Variante, eben selbst dumm sind.

Ich frage immer zurück, wo das denn alles in der Strafprozessordnung stehe. Das stehe schon drin, heißt es dann. Und auf den Einwand, es stehe eben gerade nicht drin, kommt mit Sicherheit die Bemerkung, das könne schon sein, immerhin hätte ich ja Jura studiert.

Aber auf jeden Fall sei das, was wir Anwälte da abziehen, „Behinderung der Justiz“, „Strafvereitelung“ oder „Begünstigung“. Eine Kommissarin sprach sogar mal von „unterlassener Hilfeleistung gegenüber dem Staat“. Wie auch immer, keine Erklärung ist – bei unseriös arbeitenden Polizisten – zu schrottig, um Zeugen über ihre Rechte in die Irre zu führen und ihnen den Mund zu öffnen.

Niemand muss mit der Polizei sprechen – dieses bislang weitgehend unbekannte, dennoch aber eherne und nur vom BKA-Gesetz etwas angetitschte Prinzip gerät nun ins Wanken. Im Koalitionsvertrag findet sich zwischen den Änderungen im Wiederaufnahmerecht und der Reform des Transsexuellenrechts, also ziemlich weit hinten, folgender Satz:

Wir werden eine gesetzliche Verpflichtung schaffen, wonach Zeugen im Ermittlungsverfahren nicht nur vor dem Richter und dem Staatsanwalt, sondern auch vor der Polizei erscheinen und – unbeschadet gesetzlicher Zeugenrechte – zur Sache aussagen müssen.

Bevor wir nach Sinn und Unsinn dieses Vorhabens fragen, sollten wir klären, warum Zeugen bei der Polizei eigentlich nichts sagen müssen. Es ist zunächst keineswegs so, dass Zeugen grundsätzlich schweigen dürfen. Wie schon im Koalitionsvertrag angedeutet, müssen Zeugen vor dem Staatsanwalt und Richter jederzeit erscheinen – und aussagen. Und zwar nach Vorladung. (Was natürlich Vorlaufzeit bedeutet und die Möglichkeit gibt, sich als Zeuge über die eigenen Rechte zu informieren. Und, was immer zulässig ist, zum Beispiel einen Anwalt mitzubringen.)

Eine erste Erklärung ergibt sich daraus, dass Polizisten nach dem jetzigen Konzept der Ermittlungen lediglich „Hilfsbeamte“ sind. Chef der Ermittlungen ist der Staatsanwalt. Er koordiniert, entscheidet was zu tun ist – und er befragt dann auch die „renitenten“ Zeugen. Ist ein Zeuge für die Ermittlungen sowieso von überragender Bedeutung, wird der Staatsanwalt ohnehin nicht zögern, ihn vom Richter vernehmen zu lassen. Beim Richter gemachte Aussagen können nämlich später unter Umständen auch dann im Prozess verwendet, das heißt verlesen werden, wenn der Zeuge später nichts mehr sagt.

Auch die höhere Qualifikation von Staatsanwälten und Richtern spielte eine Rolle, die Strafprozessordnung so zu machen wie sie heute ist. Zeugen, die nichts sagen wollen, haben ja meistens einen Grund. Insbesondere bei der Bewertung, ob ein Auskunfts- oder gar ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht besteht, kann es jedenfalls nützlich sein, wenn der Vernehmende Jurist ist.

Außerdem kommen auch Mittel in Betracht, den Zeugen zum Reden zu bringen. Er kann sogar eingesperrt werden, wenn er sich vor dem Staatsanwalt oder dem Richter ohne gesetzlichen Grund weigert, etwas zu sagen. Der Polizei wollte man gar nicht die Möglichkeit geben, einem Zeugen mit Ordnungsgeld oder gar Zwangshaft drohen zu können. Aus naheliegenden Gründen. Jedenfalls jene Minderheit von Polizeibeamten, die auch heute noch Beschuldigten die Kontaktaufnahme mit ihrem Anwalt verweigern (beste Erklärung in letzter Zeit: „Vom Dienstapparat dürfen wir keine Handys anrufen“), würden sich über die neuen Daumenschrauben herzlich freuen.

Hinzu kommt ein anderer Aspekt. In einem Ermittlungsverfahren ist regelmäßig nur ein Staatsanwalt zuständig. Ebenso ein Ermittlungsrichter. Es kann aber sein, dass zig Polizisten, noch dazu an den unterschiedlichsten Standorten, Ermittlungen führen. Wie oft darf dann der Zeuge von der Polizei in die Mangel genommen werden? Beliebig oft, oder zumindest einmal jeweils in Düsseldorf, Stuttgart und Berlin?

Die Formulierung im Koalitionsvertrag geht dahin, Zeugen müssten vor der Polizei erscheinen. Das klingt zumindest so, als sei geplant, die Aussagepflicht an eine vorherige „Einladung“ zu koppeln. Was dem Zeugen einen zeitlichen Vorlauf gäbe, um sich unabhängig über seine Rechte zu informieren und einen Beistand zu organisieren. Immerhin.

Natürlich steht es in den Sternen, ob das Vorhaben umgesetzt wird. Gut möglich, dass die liberale Justizministerin zunächst andere Schwerpunkte setzt. Wenn die Vorschrift aber kommt, hätte sie auch ein Gutes. Alle deutsche Fernsehkrimis, in denen Polizisten nach Lust und Laune demütige Zeugen ausquetschen, wären nachträglich juristisch rehabilitiert.