„Beschämend und beunruhigend“

Der Deutsche Anwaltverein kritisiert deutsche Gerichte, welche die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Sicherungsverwahrung missachten. So hätten zuletzt das Landgericht Aachen und das Oberlandesgericht Köln die an sich fällige Freilassung Sicherungsverwahrter mit der Begründung abgelehnt, sie seien wegen der deutschen Rechtslage nicht an die Urteile des EGMR gebunden. Der Deutsche Anwaltverein findet diese Rechtsprechung beschämend und beunruhigend zugleich.

Schon seit dem Urteil des EGMR vom 17. Dezember 2009 steht fest, dass die zeitweise gültige Regelung der Sicherungsverwahrung menschenrechtswidrig war. Die Sicherungsverwahrung war in Deutschland auf unbegrenzte Zeit verlängert worden. Bei den Verurteilten, die vor dem EGMR Erfolg hatten, galt zum Zeitpunkt der Anordnung jedoch eine Höchstgrenze von zehn Jahren. Nachträglich sollten aber auch sie unbegrenzt lange sicherungsverwahrt werden.

Der EGMR hielt die Aufhebung der Höchstgrenze für eine nachträglich angeordnete Strafschärfung. Diese ist nach der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht zulässig. Gleichwohl stellen sich manche Gerichte auf den Standpunkt, die Menschenrechtsverletzung sei hinnehmbar. Sie argumentieren formal damit, die Menschenrechtskonvention sei in Deutschland kein höherrangiges Recht.

Dies stößt beim Deutschen Anwaltverein auf Unverständnis. Immerhin habe der EGMR unmissverständlich an alle Gerichte appelliert, „ihre Verantwortung wahrzunehmen, das Recht der Beschwerdeführer auf Freiheit, eines der Kernrechte der Konvention, zügig umzusetzen“. Und auch die Bundesregierung habe erklärt, es gebe derzeit ausreichenden Spielraum für deutsche Gerichte, die Menschenrechte zu beachten.

Unabhängig von den derzeit umstrittenen „Altfällen“ sieht der Deutsche Anwaltverein die Diskussion um die Sicherungsverwahrung nicht als abgeschlossen an. Seit Anfang des Jahres gebe es zwar eine Neuregelung. Gleichwohl hat die Standesvertretung Zweifel daran, dass die neuen Möglichkeiten tatsächlich ebenfalls die Menschenrechte verletzen.

Sicherungsverwahrung bedeute derzeit unbefristeten Freiheitsentzug für Betroffene, welche die Strafen, zu denen sie verurteilt wurden, vollständig verbüßt haben. Gleichwohl blieben sie in Unfreiheit, weil sie als gefährlich gälten. Diese Prognose sei aber nicht zuverlässig zu treffen. In den meisten Fällen erweise sie sich auch als unzutreffend. Das hätten wissenschaftliche Unterschungen ergeben.

Schon das erhebliche Risiko von Fehlurteilen gebiete allergrößte Zurückhaltung bei der Sicherungsverwahrung. Der Deutsche Anwaltverein:

Menschenrechte dürfen nicht auf dem Altar einer Stimmung geopfert werden, die Sicherheitsinteressen über Freiheitsrechte stellt.

Die Anwälte hoffen jetzt auf klare Leitlinien durch das Bundesverfassungsgericht. Im Februar stehen dort mehrere Verfahren zur Sicherungsverwahrung an.