Ständig über die Schulter schauen?

Dieser Satz fehlt in keiner Filesharing-Abmahnung:

Selbst wenn Sie die Urheberrechtsverletzung nicht selbst begangen haben, haften Sie als sogenannter Störer. Es ist nämlich Ihre Aufgabe als Anschlussinhaber, darauf zu achten, dass Dritte über Ihren Internetanschluss keine Urheberrechtsverletzungen begehen…

Das wird gern mit dem Hinweis auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (“Sommer unseres Lebens”) untermauert, in der das Vorstehende höchstrichterlich festgelegt sein soll. Nur – was die Abmahnanwälte behaupten, stimmt schlicht nicht.

Das erfahren wir nun aus dem Penthaus der deutschen Justiz. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist nämlich die Frage, ob und wie der Inhaber eines Internetanschlusses andere Nutzer kontrollieren muss, gerade noch nicht höchstrichterlich geklärt. Deswegen verweist das höchste deutsche Gericht einen Rechtsstreit zurück an das Oberlandesgericht Köln, damit man sich dort noch mal Gedanken macht.

Die Kölner Richter hatten einen Polizisten wegen einer Urheberrechtsverletzung verurteilt, die er gar nicht selbst begangen hatte. Vielmehr hatte der 20-jährige Sohn seiner Lebensgefährtin Songs aus einer Tauschbörse geladen.

Das Oberlandesgericht Köln verweigerte dem Beklagten die Revision zum Bundesgerichtshof. Zu Unrecht, wie das Bundesverfassungsgericht nun feststellt. Die Karlsruher Richter zählen die bisher ergangenen Urteile von Oberlandesgerichten zur Haftung des Anschlussinhabers auf. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es widersprüchliche Ansichten gibt, ob und in welchem Umfang der Anschlussinhaber den Internetzugang überwachen muss.

Mit dem erwähnten Urteil “Sommer unseres Lebens”, das vom Bundesgerichtshof und damit aus der höchsten Zivilrechtsinstanz stammt, kann das Verfassungsgericht nichts anfangen. Diese Entscheidung passe überhaupt nicht zur Fragestellung, denn sie beschäftige sich nur mit der Sicherung des WLANs nach außen. Ob und inwieweit ein Anschlussinhaber für Familie, Freunde und Besucher einstehen muss, die er wissentlich seinen Anschluss nutzen lässt, sei eine ganz andere Thematik.

Wegen der offenen Rechtsfrage habe das Oberlandesgericht Köln die Revision nicht ausschließen dürfen, befindet das Verfassungsgericht. Nun ist es wahrscheinlich, dass die Revision tatsächlich zugelassen wird.

Ich rechne nicht damit, dass die Abmahnanwälte bis zu einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs auf ihre liebegewordenen Textbausteine verzichten. Aber immerhin ist es nun doppelt sinnvoll, bei der Ablehnung der Ansprüche darauf hinzuweisen, dass es im Haushalt Dritte gibt, die den Internetanschluss nutzen dürfen – auch wenn ihnen der Abgemahnte nicht ständig über die Schulter schaut.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13. April 2012, Aktenzeichen 1 BvR 2365/11