Anwälte dürfen auch mal auf Tische steigen

Der Koblenzer Mammutprozess gegen mutmaßliche Rechtsradikale vom „Aktionsbüro Mittelrhein“ muss fortgesetzt werden. Nach fast fünf Jahren Prozessdauer und 337 Verhandlungstagen hatte die Staatsschutzkammer des Landgerichts im Mai das Verfahren eingestellt, weil der Vorsitzende Richter in Rente ging und ein Ersatzrichter nicht zur Verfügung stand. Das Oberlandesgericht Koblenz sieht jedoch keinen Grund, dass der Prozess gegen ursprünglich 26, zuletzt 17 Angeklagte einfach so endet. Das Verfahren sei vor einer anderen Strafkammer fortzusetzen, ordnen die Richter in einem heute bekanntgegebenen Beschluss an.

Die Koblenzer Staatschutzkammer hatte die endgültige Einstellung vorrangig mit „überlanger Verfahrensdauer“ begründet. Verbunden damit waren schwere Vorwürfe gegen die Verteidiger. Diese hätten das Gericht mit 500 Befangenheitsanträgen, mehr als 240 Beweisanträgen und 400 Anträgen zum Verfahrensablauf bombardiert. Die Richter am Oberlandesgericht Koblenz sehen darin jedoch kein Fehlverhalten. Es gehöre zu den Rechten von Angeklagten und Verteidigern, „strafprozessuale Rechte besonders häufig oder in großem Umfang in Anspruch zu nehmen“. Die anwaltliche Berufsausübung unterliege grundsätzlich „der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen“.

Insoweit attestiert das Gericht der Staatschutzkammer einen grundsätzlichen Denkfehler. Eine überlange Verfahrensdauer könne nur dann zu einer Einstellung des Verfahrens führen, wenn der Zeitverlust auf Versäumnissen der Justiz beruhe, etwa bei schleppenden Ermittlungen, vertrödeltem Verhandlungsbeginn und zu wenigen Verhandlungstagen in der Woche. Hier sei die monierte Verzögerung aber durch die legitime Verteidigungsstrategie der Angeklagten entstanden und somit nicht im Einflussbereich der Justiz.

Das Landgericht hatte auch moniert, dass einige Verteidiger mitunter skurrile Auftritte hinlegten. So bestieg ein Anwalt einmal einen Tisch, um von dort aus zu sprechen. Abgesehen davon, dass sich die zeitliche Verzögerung hieraus in Grenzen gehalten hat, erlaubt der „Kampf ums Recht“ nach Meinung des OLG Koblenz einem Verteidiger nicht nur die Benutzung starker, eindringlicher Ausdrücke, sondern auch ein Verhalten, das von anderen Verfahrensbeteiligten als stilwidrig, ungehörig oder als Verstoß gegen den „guten Ton“ und das Takt- und Anstandsgefühl empfunden werde.

Es sei auch kein Versäumnis der Justizbehörden, dass der Vorsitzende Richter die Altersgrenze erreicht habe. Das Rentenalter sei in Rheinland-Pfalz gesetzlich geregelt und somit bindend. Während ich den vorstehenden Begründungen als Anwalt wenig überraschend zustimme, ist die Argumentation des Oberlandesgerichts in diesem Punkt doch dürftig.

Zu Beginn des Verfahren im Jahre 2012 war schon abzusehen, dass der Prozess mit 26 Angeklagten und 52 Verteidigern sowie einer mehr als tausendseitigen Anklageschrift Jahre dauern würde. Es wurde aber nur ein Ersatzrichter hinzugezogen, und das, obwohl der Vorsitzende Richter gar nicht der erste Rentenanwärter war. Vielmehr ging schon ein beisitzender Richter knapp zwei Jahre nach Prozessbeginn in den Ruhestand. Der einzige Ersatzrichter war also schon frühzeitig fest „verplant“.

Es wäre also von vornherein erforderlich gewesen, zumindest zwei Ersatzrichter einzusetzen, zumal Richter ja nicht nur in Rente gehen, sondern auch mal erkranken oder gar sterben können. Genau darin ist nach meiner Meinung ein greifbares Versäumnis der Justiz zu sehen. Die mangelhafte Prozessplanung führt aber nun dazu, dass fünf Jahre lang ohne Ergebnis verhandelt wurde, obwohl sich die Beweisaufnahme in dem Verfahren an sich dem Ende zuneigte. Man könnte darin also schon einen Verstoß gegen den Anspruch jedes Beschuldigten auf ein zügiges Verfahren sehen.

Es wird sicher interessant, wie das nun zuständige Gericht das Verfahren angeht. Dass die Ehrenrunde so umfangreich ausfällt wie der erste Durchlauf, ist insbesondere auch dem Steuerzahler nicht zu wünschen. 20 bis 25 Millionen Euro dürfte das Verfahren schon bisher gekostet haben. Ein Aberwitz vor dem Hintergrund, dass den Angeklagten fast durchgehend nur kleinere Straftaten zur Last gelegt werden, über die normalerweise das Amtsgericht an einem Verhandlungstag entscheiden würde.

Grotesk aufgeblasen wurde das Verfahren letztlich nur, weil interessierte Kreise im Aktionsbüro Mittelrhein partout eine kriminelle Vereinigung sehen wollten. Das war nach meiner Meinung weniger der Faktenlage geschuldet, sondern mehr dem Umstand, dass die Innenbehörden des Bundes und der Länder im Jahr 2012 dringend Fahndungserfolge präsentieren wollten – um vom eigenen Versagen im NSU-Komplex abzulenken (Aktenzeichen 2 Ws 406 – 419/17).