Aufklärungsverweigerung

Bei einer großen deutschen Versicherung gab es, dem Vernehmen nach, lange ein „Handbuch zur Abwehr berechtigter Ansprüche“. Auch wenn die Fibel vor Jahren aus dem Verkehr gezogen wurde, scheinen die Lehren des unbekannten Autors noch in den Köpfen vieler Sachbearbeiter zu wirken – möglicherweise auch durch ordentlichen Druck von Seiten der Vorgesetzten.

Neulich hatte ich bei einer Unfallsache mal wieder das Vergnügen mit der Versicherung. Meine Mandantin, eine Dame gesetzten Alters, wollte die Angelegenheit erst selbst regeln. Gute Idee, denn der Unfall war an sich eine klare Sache. Der Unfallgegner war aus einer Hauseinfahrt auf die Straße gefahren, ohne auf den fließenden Verkehr zu achten. Mit meiner Mandantin krachte es, die Autofahrer dahinten standen als Zeugen zur Verfügung.

Doch die Versicherung zahlte nicht. Stattdessen beauftragte sie ein Sachverständigenbüro. Das Büro schrieb:

Um die Angelegenheit auch in Ihrem Interesse klären zu können, ist es erforderlich, eine Rekonstruktion des Schadenshergangs an der Unfallstelle durchzuführen.

Am Telefon erfuhr meine Mandantin, dass sie tatsächlich mit ihrem Auto an den Unfallort kommen sollte. „Dort spielen wir das nach“, erklärte der Sachverständige. Meine Mandantin hatte dazu weder Zeit noch Lust. „Kein Problem“, bekam sie zu hören, „das gilt als Aufklärungsverweigerung. Die Versicherung wird dann nichts zahlen.“

So ging das einige Zeit hin und her. Selbst die Sachbearbeiterin bei der Versicherung erklärte der Mandantin, sie müsse an einem Ortstermin teilnehmen. Sonst gebe es kein Geld. Als ich mich einschaltete, wollte die Schadenstante es plötzlich nicht so gemeint haben. Meine Mandantin sei doch nur höflich eingeladen worden. „Ob sie dann kommt, ist natürlich ihre Sache.“

Drei, vier Tage später war der Schadensersatz da. Ich nehme an, den angeblich so wichtigen Ortstermin hat es nicht gegeben.

Ich würde die Geschichte nicht erzählen, hätte mich vorhin nicht ein neuer Mandant angerufen. Der verstand überhaupt nicht, wieso man ihn zu einer Unfallrekonstruktion zwingen will. Das Ansinnen kam, unschwer zu erraten, von der betreffenden Versicherung.

Wer weiß, vielleicht ist das Handbuch ja neu aufgelegt.