Die Legende vom “geistigen Eigentum”

Ich bin beeindruckt. Ein Schweizer Assistenzprofessor zerpflückt in wenigen Worten die Mär vom “geistigen Eigentum” und entlarvt sie als das, was sie in Wirklichkeit ist – “propagandistische Rhetorik”.

Florent Thouvenin, der an der Law School der Universität St. Gallen lehrt, hat einige unbequeme Wahrheiten im Gepäck. Zum Beispiel jene, dass die Idee des “geistigen Eigentums” relativ neu ist. Thouvenin verortet sie erst auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Erst mit dem massenweisen Nachdrucken von Büchern sei überhaupt die Idee entstanden, der Autor könne nicht nur Rechte an seinem Manuskript haben. Sondern auch an den darin festgehaltenen Ideen.

Die Anknüpfung ans Eigentum war damals in der Sache naheliegend. Bei Büchern handelt es sich nun mal um körperliche Gegenstände. Spätestens mit der Digitalisierung gibt es aber keine Rechtfertigung mehr, den für körperliche Dinge geltenden Eigentumsbegriff auch auf Inhalte zu erstrecken, die beliebig vermehrbar sind. Ein Fahrrad kann eben nur von einer Person genutzt werden. Was für digitale Güter aber offensichtlich nicht gilt, bei ihnen ist eine “nicht rivalisierende Nutzung” möglich.

Fast schon verblüffend ist auch Thouvenins Hinweis, dass digitale Güter in einer Gesellschaft an sich am besten genutzt werden, wenn sie für jedermann frei zugänglich sind. Das eigentliche Problem fasst der Jurist so zusammen:

Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht besteht bei öffentlichen Gütern damit ein Dilemma: Aufgrund der Nicht-Rivalität werden öffentliche Güter optimal genutzt, wenn die Nutzung durch jedermann frei erfolgen kann. Umgekehrt ist aber wegen der Nicht-Ausschliessbarkeit zu erwarten, dass öffentliche Güter auf dem Markt nicht in ausreichendem Umfang produziert werden, weil die Nutzung durch Dritte nicht verhindert oder von einem Entgelt abhängig gemacht werden kann.

Die Rechtfertigung für einen besonderen Schutz dieser Güter kann nach Thouvenins Auffassung nur darin liegen, eine gesellschaftlich ungewünschte Verknappung zu verhindern, weil möglicherweise zu wenige Kreative Lust haben, für Gotteslohn geistige Werke zu schaffen. Wie aber ist der Ausgleich zu gestalten? Völlig zu recht weist Thouvenin darauf hin, dass soziologische, ökonomische und juristische Aspekte auf einen Nenner gebracht werden müssen. Es muss also ein Ausgleich erzielt werden. Jedenfalls gibt es keineswegs einen faktischen Zwang, wegen der angeblichen Existenz “geistigen Eigentum” dieses um seiner selbst zu schützen.

Der Autor:

Der Begriff des geistigen Eigentums verstellt hier nur den Blick auf die wahre Komplexität, indem er mit propagandistischer Rhetorik versucht, die Gewährung von Ausschliesslichkeitsrechten an öffentlichen Gütern als vermeintlich zwingend hinzustellen.

Bei dieser, wie ich meine zutreffenden, Sicht der Dinge dreht sich manches um. Das wird vielen “Urhebern” nicht gefallen. Aber die Zeit scheint abgelaufen, in der sie kritiklos auf ihr schiefes Bild vom “geistigen Eigentum” pochen und Rechte reklamieren konnten, die ihnen bei objektiver Betrachtung gewährt werden können. Aber nicht müssen. 

Florent Thouvenins Kommentar in der NZZ