Die Zeitung aus der 1. Klasse

Darf man mit einem 2.-Klasse-Ticket in der Bahn eine Zeitung aus der 1. Klasse „mitgehen“ lassen? Diese Frage wirft die aktuelle Geschichte eines Lehrers auf. Der Mann war mit einem Ticket 2. Klasse im ICE auf das Klo in der 1. Klasse ausgewichen und hatte sich bei der Gelegenheit am Ständer mit den Tageszeitungen bedient.

Der Fahrgast behauptet, nicht gewusst zu haben, dass die Gratiszeitungen in der 1. Klasse nur für Fahrgäste der 1. Klasse sind. Der Schaffner bezichtigte ihn, so wird berichtet, des Diebstahls und und sorgte mit Hilfe einer Polizistin dafür, dass der Mann den Zug verließ. Obwohl der Fahrgast die Zeitung freiwillig zurückgelegt hatte.

Betrachten wir die Sache der Einfachheit halber von hinten. Das Verhalten des Zugbegleiters geht im Ergebnis verdächtig in Richtung Nötigung. Denn es ist einem Fahrgast überhaupt nicht untersagt, mit einem 2.-Klasse-Ticket die 1. Klasse zu betreten. Nach Ziff. 2.6.2 der Beförderungsbedingungen der Bahn ist das Betreten der 1. Klasse ein durch schlüssiges Handeln erklärter sogenannter „Übergang“. Dieser verpflichtet den Fahrgast, den Differenzbetrag zur 1. Klasse zu zahlen. Zulässig ist der Übergang zu jedem beliebigen Zeitpunkt (Ausnahme: Zugbindung).

Den Übergang muss man auch keineswegs mitteilen, bevor man mit der Fahrkarte 2. Klasse in die 1. Klasse geht. Vielmehr genügt es im ICE und IC, wenn man „bei der Prüfung der Fahrkarten unaufgefordert meldet“, dass man keine Fahrkarte für die 1. Klasse hat. Man muss also nicht auf den Zugbegleiter zugehen oder ihn gar suchen. Vielmehr darf man abwarten, bis er zu einem kommt (Ziff. 3.8.2 der Beförderungsbedingungen). Diese Regelung gilt ausdrücklich auch für den Übergang (Ziff. 3.8.3).

Es kann also keine Rede davon sein, dass der Fahrgast sich keine Zeitung nehmen durfte, bloß weil er kein Ticket für die 1. Klasse hatte. Vielmehr ist auch die Selbstbedienung selbst erst mal höchstens ein schlüssiger Beleg für die Nutzung der 1. Klasse, ebenso wie schon das reine Betreten der 1. Klasse selbst.

Bis zur Kontrolle, die aktiv vom Zugbegleiter ausgehen muss, war der Fahrgast demnach berechtigt, sich eine Tageszeitung aus dem Ständer zu nehmen. Ebenso wie er berechtigt war, sich mit seinem Ticket 2. Klasse in der 1. Klasse hinzusetzen und die Füße auszustrecken. Und zwar ohne Angst, als Schwarzfahrer zu gelten. Im Zweifel hätte er nämlich immer nur für die 1. Klasse nachlösen müssen. Bis dahin hätte er sich also während seines gesamten Aufenthalts in der 1. Klasse einschließlich des Griffs nach der Zeitung rechtmäßig verhalten. Somit geht der Vorwurf des Schaffners grundsätzlich ins Leere.

Aber hinsetzen und bei einer eventuellen Kontrolle ein Ticket nachlösen – das wollte der Fahrgast ja gar nicht. Er wäre wahrscheinlich ganz einfach in die 2. Klasse zurückgegangen und hätte die Zeitung dort gelesen. Aber kann das aus einem rechtmäßigen Verhalten nachträglich ein unrechtmäßiges Verhalten machen? Kann also aus einem durch schlüssiges Handeln erfolgten Übergang im Sinne der Beförderungsbedingungen im nachhinein so was Böses wie ein Diebstahl werden?

Wohl kaum, zumal eigentlich auch hier die Beförderungsbedingungen der Bahn weiterhelfen. Diese lassen den Übergang nämlich ausdrücklich auch für „Teilstrecken“ zu. Daraus ist zu folgern, dass es nun rein gar keine Verpflichtung gibt, nach dem Übergang in die 1. Klasse zumindest so lange in der 1. Klasse auszuharren, bis man kontrolliert wird. So hätte es für den Fahrgast letztlich völlig gereicht, dass er nach der Rückkehr an seinen Platz in der 2. Klasse bei der Kontrolle angegeben hätte, dass er eine Teilstrecke in der 1. Klasse zurückgelegt hat. Was er aber gar nicht musste, weil ihn der Schaffner wohl gesehen und angesprochen hat, so dass sich gar nicht die Frage nach seiner „Ehrlichkeit“ stellt.

Aber selbst wenn er die kurzzeitige „Nutzung“ der 1. Klasse abgestritten und sich damit der Möglichkeit des Nachlösens beraubt hätte, wäre der Fahrgast jedenfalls nicht zum Dieb geworden. Vielmehr hätte er ein erhöhtes Beförderungsentgelt zahlen müssen. Und die Bahn hätte ihn dann allenfalls der Beförderungserschleichung, aber nicht des Diebstahls beschuldigen können.

Falls der eine oder andere Bahnfahrer jetzt Lust auf Gratislektüre in der Bahn bekommen hat, wünsche ich viel Spaß. Legt dem Schaffner aber bitte keine Ausdrucke dieses Beitrags vor…