LEBENSÜBERDRUSSGEDANKEN

So etwas passiert mir selten. Aber ich musste heute wirklich um Beherrschung kämpfen. Nämlich in dem Augenblick, als der Arzt in der Anhörung die angebliche Suizidankündigungen als Fakten darstellte. Mit der Begründung, die Angaben stünden ja immerhin so im Polizeibericht.

Ach, das was in Polizeibericht festgehalten ist, stammt aus mehr als dubiosen Quellen? Es hat sich auch gar nichts ereignet, was die behauptete Selbstmordabsicht tatsächlich bestätigt? (Gilt nicht, wenn man eine Frau, die in ihrem Auto durch die Stadt fährt, grundsätzlich für suizidal hält.) Keine der behaupteten Schlaftabletten weit und breit? So what, says the doctor, immerhin zitiert die Polizei Frau G. doch selbst mit der Aussage, sie sei derzeit schon etwas ausgelaugt und „irgendwie am Ende“, nach all der Streiterei in der Familie.

Aber sind wir das nicht manchmal alle? Und müssen wir deswegen in die Psychiatrie eingewiesen werden?

Es ist überhaupt phänomenal, was ein junger Psychiater nach einem knapp 15-minütigen Gespräch – unter Verzicht auf jedwede körperliche Untersuchung außer Blutdruckmessen – für tolle Diagnosen über eine Patientin stellen kann. Rezividierende Anpassungsstörung, depressive Phasen, sporadisch hoher Leidensdruck durch ein konfliktgeladenes soziales Umfeld. Potentielle Eigengefährdung ist nicht auszuschließen. Ebenso sich erneut wiederholende, ich zitiere, Lebensüberdrussgedanken.

Folge: zwangsweise Unterbringung – für eine Woche. Mit welcher Nonchalance die Notwendigkeit einer staatlichen Freiheitsentziehung gerechtfertigt wird, also ein brutaler Eingriff in eins der wichtigsten Grundrechte, das hat mich wirklich umgehauen.

Ich konnte nicht anders. Ich musste an dieser Stelle anregen, die Anhörung abzubrechen. Und einen Arzt aus einem anderen Krankennhaus hinzuziehen, der sich mit so was auskennt.

Offenbar hat sich nämlich bis in manche Krankenhausflure noch nicht rumgesprochen, dass das – hier anwendbare – PsychKG NRW nicht nur eine Selbstmordgefahr fordert. Sondern diese muss auch „krankheitsbedingt“ sein. Sind rezidivierende Anpasssungsstörungen, Depressionen und sporadisch hoher Leidensdruck denn Krankheiten, aus denen sich ohne weiteres eine akute Selbstmordgefahr herleiten lässt?

Wenn ja, müsste man sich dann nicht auch bei Schnupfen und Rheuma ernsthafte Gedanken machen?

Und selbst wenn, führen diese „Krankheiten“ notwendig dazu, dass die Steuerungsfähigkeit des Betroffenen so weit ausgeschlossen ist, dass er nur mit einer Freiheitsentziehung von einem nicht eigenverantwortlichen Selbstmord abgehalten werden kann? Dies einmal unterstellt, kann man so etwas nach 15 Minuten Plauderei wirklich so sicher sagen?

Diese Erwägungen brachten uns dann auch auf die richtige Spur. Auch die Richterin interessierte sich nämlich dafür, ob der Arzt tatsächlich jede Selbstmordankündigung für krankheitsbedingt hält. Die Antwort klang selbstgefällig, so wie Mediziner gern mit Juristen sprechen: „Aber selbstverständlich.“

Man muss sich wirklich nicht übermäßig mit (forensischer) Psychiatrie beschäftigt haben, um eins zu wissen: Die Antwort ist Nonsens. Ich glaube, in den Köpfen der beiden anwesenden Juristen ploppten die Übungsfälle an der Uni und auch jene aus der Berufspraxis auf, in denen astreine, eigenverantwortlich und im Vollbesitz der geistigen Kräfte verübte Bilanz-Suizide eine Rolle spielen.

Kurz gesagt, die psychiatrische Stellungnahme strotzte nicht nur von bemerkenswerter Knappheit, Platitüden und jeder Menge fehlender logischer Synapsen. Sie war auch ein Beispiel dafür, dass man auch als Sachverständiger besser mit leidlichem Basiswissen der ansonsten gern belächelten Juristen rechnen sollte.

Der Antrag des Ordnungsamtes auf Unterbringung wurde abgelehnt.

Frau G. durfte die Klinik heute Nachmittag verlassen.