Lebenserfahrung

So, seit 13 Uhr, also nach der Hauptverhandlung am Landgericht Wuppertal, habe ich nicht nur an einer Revisionsbegründung gearbeitet. Sondern sie auch fertig gestellt.

Das Gericht hat sich keine Verfahrensfehler geleistet. Zumindest sind mir keine aufgefallen. So blieb es bei der Sachrüge. Dabei muss man darlegen, dass das, was das Gericht als Geschehen festgestellt hat, doch nicht strafbar ist.

Da ist wenig zu reißen – sollte man meinen. Am Landgericht wird ja noch nicht einmal ein Wortprotokoll geführt. Und Tonbandaufzeichnung oder gar Video stehen derzeit wohl nicht mal zur Debatte. Das Gericht hätte also die Möglichkeit, sich den Sachverhalt zurecht zu biegen. Wenn der Zeuge grün gesagt hat, könnte im Tatbestand des Urteils auch „hellgrün“ stehen, wenn es ins Konzept passt. Oder aus einem „eher nicht so starken“ Fausthieb wird ein „schwerer“ Schlag.

Das sind zwei Beispiele, über die ich mich mal geärgert habe. Beim Grün bin ich mir lange Zeit nach dem Prozess nicht mehr so sicher. Könnte auch rosa gewesen sein. Eben das ist es, was die „Sachverhaltsquetsche“ so handlich und bequem macht: Wer weiß nach der fünfzigsten Zeugenaussage schon noch genau, wer was im Einzelnen gesagt hat?

Dennoch kenne ich natürlich keinen Richter, der sich das Geschehen vorsätzlich passend schreibt. Das wäre nämlich Rechtsbeugung. So ein wenig fahrlässig interpretieren, auslassen oder hinzufügen soll allerdings schon mal vorkommen.

Dennoch lohnt es sich immer, die Feststellungen des Urteils genau darauf abzuklopfen, ob wirklich alle Tatbstandsmerkmale des Strafgesetzes erfüllt sind. Oder ob die eine oder andere Erkenntnis nicht doch weniger auf „tatsächlichen Anhaltspunkten“ beruht – und sehr stark auf Unterstellungen.

So ein Urteil kann sich zunächst gut lesen. Wenn man es dann Satz für Satz durchgeht, tun sich doch immer wieder Lücken auf. Manchmal kann man sogar aus sprachlichen Vergehen, für die Juristen ohnehin bekannt sind, Nutzen ziehen. Zum Beispiel steht im Urteil, der Wirkstoffgehalt des in Deutschland an Endabnehmer verkauften Kokains liege „indes regelmäßig bei 30 %“. Das sei den Berufsrichtern aus langjähriger Erfahrung bekannt. Wer allerdings von regelmäßig spricht, kennt auch Ausnahmen. Dann ist allerdings auch eine Erklärung zu erwarten, warum der vorliegende Fall ausgerechnet zu den regelmäßigen gehört.

Oder das Gericht beruft sich auf die Lebenserfahrung. So soll es zum Beispiel der Lebenserfahrung entsprechen, dass die Grenzbeamten am Flughafen von Amsterdam darüber informiert werden, wenn die spätere Laboranalyse sichergestellter Substanzen ergibt, dass es sich trotz positivem Schnelltests doch nicht um Drogen gehandelt hat.

Bislang war mir nicht bekannt, dass deutsche Richter ausgerechnet Lebenserfahrung mit dem Berufsalltag ausländischer Grenzer haben. Die Erfahrung in Deutschland ist jedenfalls eine ganz andere. Da weiß jeder forensisch tätige Jurist, dass die operativen Kräfte an der Basis regelmäßig (ich darf das Wort verwenden) keine Rückmeldung darüber erhalten, wie ihre Fälle ausgegangen sind.

Der Vorgang wandert vielmehr stur durch den Apparat. Wenn ein Polizist einen Dieb festgenommen hat, beschäftigt sich ein Kriminalbeamter mit der Anzeige. Der Kriminalbeamte befragt Zeugen und schließt die Ermittlungen ab. Dann leitet er die Akte weiter an die Staatsanwaltschaft. Aber der Polizist kriegt keine Rückmeldung darüber. Ebenso wenig informiert der Staatsanwalt den Kripo-Menschen darüber, ob er Anklage erhebt oder das Verfahren vielleicht einstellt. Von den Gründen ganz zu schweigen.

Wieso es also in Holland genau andersrum laufen soll, erklärt das Gericht mit keinem Wort. „Lebenserfahrung“ ersetzt die lückenhafte Beweisaufnahme.

Ich referiere jetzt lieber nicht das weitere Dutzend Punkte, an denen es zu kritteln gab. Sondern ich belasse es bei der demütigen Feststellung, dass am Ende nur wenige Revisionen Erfolg haben.

Das ist wohl eine Lebenserfahrung, die allen Verteidigern gemeinsam ist.