Aktenberge und Tour de France

„Äußerst angespannt“ scheint ein Beitrag zu sein, der auch mitlesende Richter anspricht. In den Kommentaren finden sich zwei Erfahrungsberichte aus dem Richteralltag. Sie liefern interessante Einblicke, die ich hier noch einmal wiedergebe:

Richter 1 („vohnsima“):

… mache bisher als Richter “nur” Zivilsachen (Zivilkammer LG) und keine Strafsachen, aber der Arbeitsdruck ist schon groß. Ich arbeite ca. 11 Stunden/Tag plus einige Stunden am Wochenende plus eine bis zwei Nächte pro Woche (vorher habe ich als Anwalt in einer Großkanzlei gearbeitet, nicht dass jemand denkt, ich wüsste nicht, was da los ist). Man muss täglich Berge von Akten und Schriftsätzen lesen, Entscheidungen von existenzieller Bedeutung treffen, sich mit den wildesten Rechtsgebieten quer durcheinander befassen, vermeintlich souverän die Sitzungen leiten … Ich will nur sagen, dass die Richter keineswegs ein laues Leben führen, sondern genauso unter der Arbeit ächzen wie die anderen Juristen auch. …

Richter 2 („bo“):

Es stimmt, die Arbeitsbelastung für Richter – v.a. für richterliche Berufsanfänger – in erstinstanzlichen Zivilsachen am Landgericht ist ungeheuerlich. Die Pebb§y – Zahlen sind in diesem Bereich ein Witz, v.a., wenn man das Pech hat, in einem Gerichtsbezirk zu arbeiten, in dem es keine Spezialkammern (z.B. für Baurecht, Bankenrecht, Arzthaftungsrecht, HOAI o.ä.) gibt und man sich in jeder Akte in ein neues, kompliziertes Rechtsgebiet einarbeiten muss.

Egal aus welchem Bundesland, ich kenne keinen Kollegen, der mit den vorgesehenen Zahlen auf eine (nur) 42 – Stunden Woche kommen würde. Dazu kommt, dass der Aktenumfang in den letzten Jahren durch die ZPO – Reform stark angewachsen ist, weil in der Berufungsinstanz keine neuen Tatsachen mehr vorgetragen werden dürfen und die Richter auch anwaltlich vertretenen Parteien inzwischen detaillierteste rechtliche Hinweise geben müssen (auf die dann selbstverständlich weitere umfassende Stellungnahmen mit neuem Vortrag folgen). Außerdem scheinen die Verspätungsvorschriften in den Gesetzestexten mancher OLG-Senate einfach nicht zu existieren.

Das ist aber meiner beruflichen Erfahrung nach in anderen Bereichen der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht der Fall.

Schon die Bearbeitung von Zivilsachen beim Amtsgericht lässt sich deutlich besser beherrschen (ausruhen kann man sich da aber auch nicht). Ich habe viel weniger Arbeit mit einem laut Pebb§y mit permanent über 100% belasteten Amtsgerichtsdezernat als mit einem im Schnitt “nur” 90% umfassenden LG-Dezernat gehabt.

Im Strafrecht, noch dazu im Jugendstrafrecht, bestehen dann – zumindest meinen subjektiven Beobachtungen nach – kompett andere Belastungen, Pebb§y hin und Pebb§y her, wobei sich meine Erfahrungen aber nur auf die Amtsgerichte beziehen. Ich hatte ein einziges Mal die Gelegenheit, wegen einer längeren Krankheitsvertretung ein paar Monate ein Strafrichterdezernat zzgl. Betreuung und Nachlass bearbeiten zu dürfen. Da gab es für mich zum ersten mal die Situation, dass ich teilweise am Nachmittag um 15:00 Uhr im Büro saß und nicht mehr wußte, was ich heute noch arbeiten sollte.

Der Jugendrichter unseres – vielleicht aufgrund der ländlichen Lage insoweit entlasteten Amtsgerichts – kam nie vor 9 und war – mit Ausnahme seines Sitzungstages – spätestens um 14:00 Uhr weg (ohne Akten). Der Kaffeeraum war seine zweite Wirkungsstätte, in dem persönliche Kontakte verfestigt und die Mitgliedschaft im Präsidium (für die Geschäftsverteilung zuständig) durch kleine Ränkespiele gesichert wurde.

Seine von ökonomischen Grundüberlegungen getragene Strategie, keine wertvolle Arbeitszeit an das Abfassen rechtsmittelgefährdeter Urteile zu verschwenden, machte ihn auch bei der Anwaltschaft beliebt. Unvergessen bleibt für mich, als ich ihn einmal nach ihm fragte, ob der er Urlaub gehabt habe (ich hatte ihn längere Zeit nicht gesehen, nicht einmal im Kaffeeraum).

Antwort: Nö wieso, es sei doch Tour de France gewesen…