Die nächste Akte aufklappen

Bei vielen manchen Fällen ahnst du, dass sie dich unzufrieden zurücklassen. Weil der Zwiespalt zu groß ist. Auf der einen Seite ist es das oberste Ziel, die Interessen des Mandanten zu erfüllen – im Rahmen des Möglichen. Auf der anderen Seite natürlich der Wunsch, den Sachverhalt juristisch vernünftig zu klären und ein möglichst günstiges Ergebnis zu erzielen.

Ja, das sind mitunter Gegensätze. In einem Fall ging es um einen versuchten Autoeinbruch. Das Amtsgericht hat Fluchtgefahr angenommen und meinen Mandanten in Untersuchungshaft geschickt. Erst nach vier Monaten kam es dann zur Hauptverhandlung. Noch einen knappen Monat warteten wir auf das Urteil.

Gerichte, die trödeln, sind aber mitunter milde. Mit acht Monaten Freiheitsstrafe fiel das Urteil nicht gerade hart aus. Was dann auch die Staatsanwaltschaft bewegte, ihrerseits in Berufung zu gehen. Ihr Ziel dürfte ein Jahr Gefängnis zusätzlich gewesen sein.

Wenigstens das Landgericht war schnell und sorgte für einen fast sofortigen Hauptverhandlungstermin. Tja, und da sitzt du dann. Dein Mandant hat schon sechseinhalb der acht Monate abgesessen, im Rahmen des vorweggenommenen Vollzugs. Gar nicht auszudenken, wenn er freigesprochen oder zu einer wesentlich niedrigeren Strafe verurteilt würde. Wer gibt ihm eigentlich die verlorene Lebenszeit wieder?

Gründe für kritische Fragen in der Berufungsverhandlung gibt es genug. Zum Beispiel hat die 1. Instanz kein Wort über einen Rücktritt vom Versuch verloren. Die Angeklagten sollen zwar mit einer Taschenlampe auf eine Autoscheibe eingeschlagen haben, dann aber weiter gegangen sein. Da einer von beiden einen Leatherman in der Tasche hatte, wäre es ihnen sicher möglich gewesen, die Scheibe doch noch einzuschlagen. Da sie das aber anscheinend nicht wollten, müsste man darüber nachdenken, ob sie nicht vom Versuch zurückgetreten sind. Sie würden dadurch straflos.

Auch der Vorsitzende der Berufungskammer räumt ein, dass es hier Fragezeichen gibt. Eine sorgfältige Begründung seines Urteils, so formuliert er nach allen Seiten absichernd, sei wegen der noch möglichen Revision „unverzichtbar“.

Du könntest jetzt alle Zeugen in die Mangel nehmen und mitreißend plädieren. Leider bedeutet dies aber nicht, dass das Gericht dir am Ende folgt. Womöglich wird es den Anklagevorwurf bejahen. Daran schließt sich die unangenehme Frage an, ob das Urteil 1. Instanz zu milde war. Dein Mandant, der jetzt nur noch sechs Wochen vor der Brust hat, würde sich bedanken.

Also gehst du zum Staatsanwalt und bringst das Gespräch auf die Möglichkeit eines Deals. Beide Seiten nehmen ihre Berufung zurück und es bleibt bei den acht Monaten. Der Staatsanwalt sagt zwar, dass er an sich fast verpflichtet ist, auf eine höhere Strafe zu drängen. Aber andererseits gibt es ja auch den Grundsatz der Prozessökonomie, die Gerichte sind überlastet genug.

Du nimmst also die Berufung zurück. Der Staatsanwalt nimmt die Berufung zurück.

Den Rest sitze ich jetzt locker ab, sagt der Mandant. Er ist froh, dass es nicht schlimmer geworden ist. Man guckt halt lieber nach vorne als nach hinten.

In dir nagt weiter das Gefühl, am Ende hätte doch ein Freispruch stehen können. Du wirst es nicht erfahren.

Mitunter ist es das Beste, einfach die nächste Akte aufzuklappen.