Am Ende bleibt ein gebrochener Mann

Ein Schreiben aus der Samstagspost hat mich überrascht. Und zwar positiv. Damit geht ein jahrelanger Prozessmarathon zu Ende, der den einen Beteiligten zermürbt, aber auch dem anderen deutlich zugesetzt hat. Angefangen hat alles mit einer alltäglichen Situation…

… in einem Düsseldorfer Supermarkt. Mein Mandant steht im Juli 2005 mit seiner Schwester an der Kasse, schiebt den Einkaufswagen weiter. Dabei soll er achtlos gewesen sein. Der Kunde vor ihm behauptet, mein Mandant sei ihm mit dem Wagen in die Hacken gefahren. Fest steht, der andere Kunde sprach den vermeintlichen Übeltäter an, forderte eine Entschuldigung. Mein Mandant sagt dazu, er habe das aufgeregte Verhalten seines Kontrahenten gar nicht verstanden. „Ich habe mich einfach weggedreht und weiter Waren vom Band geräumt.“

Stimmt nicht, sagt der Andere. „Ich kriegte sofort einen Schlag gegen das rechte Ohr.“ Das mit der Ohrfeige stimmt, allerdings lag möglicherweise ein Ereignis dazwischen. Mein Mandant: „Als ich weiter einräumte, trat mir der Mann von hinten in die Knie.“ Darauf habe er impulsiv reagiert. Er drehte sich um und haute dem aufgeregten Mann eine runter.

Anschließend rangelten beide miteinander und verpassten sich weitere Schläge.

Das alles wäre höchstens ein Fall für den Schiedsmann gewesen, hätte der verärgerte Supermarktbesucher nicht bleibende Schäden erlitten. Er ist seit Geburt auf beiden Ohren schwer hörbehindert. Auf dem rechten Ohr hatte er im Sommer 2005 nur noch 20 % Hörvermögen. Atteste belegten, dass er kurz nach dem Vorfall im Supermarkt auf dem rechten Ohr taub war – und es bis heute ist.

Zum ersten Mal wurde die Sache im Jahr 2007 verhandelt. Davor musste der vermeintlich Geschädigte erst mal mit Beschwerden eine Anklage durchsetzen. Die Staatsanwaltschaft hatte die Sache nämlich als Bagatelle eingestuft und von einer Verfolgung abgesehen.

Vor Gericht hatte der Mann trotzdem keinen Erfolg. Am Ende eines langen Verhandlungstages stand ein Freispruch. Zur Begründung sagte der Richter, es sei eben nicht auszuschließen, dass der Mann meinen Mandanten aus Verärgerung von hinten getreten hat. Die Ohrfeige wäre dann Notwehr gewesen.

Monate später die Berufungsverhandlung am Landgericht. Berufung hatte nur der vermeintlich Geschädigte als Nebenkläger eingelegt. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf ein Rechtsmittel.

Den Vorsitz führte ein Richter am Landgericht, bei dem man als Angeklagter mit allem Glück haben konnte – nur nicht mit Körperverletzungsdelikten. Wer vor dem Mann als mutmaßlicher Schläger stand, konnte nur verlieren. Das mutmaßliche Opfer und alle Zeugen, die für das Opfer aussagen, haben immer recht. Der Angeklagte und alle, die was anderes bestätigen, lügen wie gedruckt. Worauf sich diese partielle Betriebsblindheit gründete, ist mir und vielen anderen Verteidigern bis heute ein Rätsel.

Mein Mandant wurde somit ordnungsgemäß wegen Körperverletzung bestraft. Ein Urteil, das er jedoch von Anfang gelassen sehen konnte. Der Amtsrichter hatte nämlich nach Eingang der Anklage vergessen, einen Eröffnungsbeschluss zu erlassen. Ohne diesen Beschluss ist das ganze Verfahren Makulatur – wenn dies in einem späteren Stadium gerügt wird.

Die Revision war demnach nur eine Formsache. Das Verfahren wurde eingestellt. Die Staatsanwaltschaft hatte sich zwar nicht gegen den ersten Freispruch gewehrt. Jetzt wurde sie aber doch noch mal aktiv. Sie überlegte es sich anders – und klagte meinen Mandanten neu an. Damit war der Fall wieder am Amtsgericht…

… das genau demselben Ergebnis kam wie beim ersten Mal. Die jetzt zuständige Richterin befragte alle Zeugen bis ins Detail. Was natürlich drunter und drüber ging – nach knapp fünfeinhalb Jahren und zwei Hauptverhandlungen nicht ganz überraschend. Die Richterin hörte sich auch die, wie ich zugeben muss, erschütternde weitere Lebensgeschichte des Nebenklägers an. Dieser litt nämlich nicht nur daran, dass er kaum noch hören kann. Er sei wegen des Vorfalls und des sich hinschleppenden Verfahren auch depressiv geworden. „Er ist nicht mehr der lebenslustige Mensch, der trotz seiner Hörbehinderung was aus seinem Leben macht“, schilderte die Ehefrau.

Gleichwohl blieb es am Ende beim Freispruch. Kein Zeuge konnte nämlich bestätigen, dass mein Mandant zuerst tätlich geworden ist. Der Kassierer meinte jetzt sogar, folgenden Satz gehört zu haben: „Warum hast du mich getreten?“ Das brachte die Richterin zu der Überzeugung, dass sich der Ablauf letztlich nicht aufklären lässt. Notwehr sei nach wie vor nicht ausgeschlossen. Sie entschied „im Zweifel für den Angeklagten“.

Der Nebenkläger legte natürlich Berufung ein. Die Staatsanwaltschaft durfte ja nicht, weil sie schon im ersten Verfahren kein Rechtsmittel eingelegt hatte. Jetzt war ich ziemlich optimistisch. Der beim ersten Mal verantwortliche Vorsitzende am Landgericht war inzwischen nicht mehr auf diesem Posten. Nun waren Richter zuständig, bei denen ich Voreingenommenheit jedenfalls so lange nicht unterstellen würde, bis sie mich vom Gegenteil überzeugen.

Zu einer neuen Verhandlung wird es jedoch nicht kommen. Der Kontrahent meines Mandanten hat sich einen anderen Anwalt genommen und die Sache mit diesem gründlich besprochen. Der Anwalt nahm für ihn die Berufung zurück, mit folgender Begründung, die ich in der Samstagspost lesen durfte:

Der Mandant ist aufgrund der psychischen Belastung und des Verfahrens und seiner seelischen Belastung nicht mehr in der Lage, den Prozess weiter fortzuführen.

Damit ist der Freispruch rechtskräftig, und jedenfalls meinem Mandanten fällt ein großer Stein vom Herzen. Er ist nämlich nicht nur zweifacher Familienvater, sondern auch seit vielen Jahren als Sozialarbeiter in der Jugendbetreuung tätig. Vorstrafen, einschließlich Punkte in Flensburg: nullkommanull. Eine Strafe wegen Körperverletzung hätte für ihn möglicherweise bedeutet, dass er demnächst nur noch Akten bearbeiten darf.

Jetzt folgt noch ein unangenehmes Kapitel. Das Landgericht hat dem Nebenkläger nämlich, wie es das Gesetz verlangt, die Kosten der Berufung auferlegt. Er wird also nicht nur seinen Anwalt bezahlen müssen, sondern auch mich. Aber vielleicht greift ihm auch ein Gehörlosenverein finanziell unter die Arme. Dessen Funktionäre haben den Mann immer wieder gehörig befeuert, die Sache bis zum Schluss durchzuziehen. Dass er heute gebrochen ist, geht nach meiner Meinung auch etwas auf ihr Konto.