Strategie und Psychologie

Wenn es um Beleidigung und Körperverletzung geht, muss man als Anwalt nicht immer durch die Wand. Ich jedenfalls lasse eine spezielle Verteidigungsstrategie nie aus dem Auge. Die zieht zwar selten, hat im Erfolgsfall aber einen durchschlagenden Effekt. Der Trick besteht darin, am Ende des Tages für gutes Wetter zu sorgen und den Zeugen dafür ein kleines Zugeständnis abzuringen, wenn sie vor Gericht aussagen – die Rücknahme des Strafantrags.

So was klappt nicht, wenn sich Zeugen und Angeklagter abgrundtief hassen und sich wechselseitig alles Übel der Welt an den Hals wünschen.  Aber der Fall, mit dem ich heute zu tun hatte, schien mir einen Versuch wert. Mein Mandant soll einen Autofahrer mit dem Stinkefinger beleidigt haben. Zu einem Busfahrer soll er außerdem gesagt haben: “Hätten Sie besser in der Schule aufgepasst, müssten Sie heute nicht Bus fahren.”

Die Staatsanwaltschaft kam zu ihrer Anklage, weil sie in ihrer unnachahmlichen Gabe zu selektiver Wahrnehmung das sonstige Geschehen ausblendete. So hatte sich der Autofahrer dermaßen über einen angeblichen Vorfahrtsverstoß meines Mandanten geärgert, dass er zum Auto meines Mandanten ging, die Tür aufriss und hineinbrüllte: “Du bist wohl nicht ganz dicht!” Mein Mandant hatte sogar noch die Scheibe hochgedreht, als er den Zeugen heranpreschen sah. So viel zu der Frage, von wem die Aggression ausging.

Der Busfahrer mischte sich später in die Diskussion ein. Und zwar mit den denkwürdigen Worten: “Typisch, mal wieder ein Weiß-Blauer.” Damit meinte er die bayerische Herkunft des Autos meines Mandanten. Über so eine freundliche Anrede erfreut, hat mein Mandant dann tatsächlich den Hättest-du-besser-mal-was-gelernt-Spruch gemacht.

An ihr eigenes Verhalten erinnerten sich die Zeugen nur widerstrebend. Was ja auch verständlich ist. Allerdings war genau das der Schlüssel, die Kurve zu kriegen. War die Vorgeschichte nach einem langwierigen, für die Zeugen auch durchaus unangenehmen Frage-Antwort-Spiel erst mal auf dem Tisch, ließ sich die Sache auf eine einfache Frage reduzieren: Hat hier nicht jeder was falsch gemacht? Und müssen echte Männer das wirklich vor Gericht regeln?

Letztere Frage habe ich etwas verklausuliert, denn ich wollte ja weder Richterin noch Staatsanwältin zu nahe treten. Bei den Zeugen kam die Botschaft jedoch an. Hintereinander stimmten sie mir zu, dass das ganze Verfahren doch eigentlich unnötig ist, wenn man sich mal offen in die Augen sieht und “sorry” sagt.

Ein Zeuge bot sogar von sich aus an, mit meinem Mandanten noch ein Bier trinken zu gehen. Vorher waren sie aber beide bereit, ihre Strafanträge zurückzunehmen. Ohne Strafantrag kann eine Beleidigung nicht verfolgt werden. Deshalb blieb dem Gericht nichts anderes übrig, als die Sache ohne Nachteile für meinen Mandanten einzustellen.

Ich sage immer, Strafverteidigung ist zu 85 Prozent Psychologie. Für die heutige Verhandlung würde ich den Wert gerne deutlich nach oben korrigieren.