Ein Zungenkuss ist kein Beischlaf

Ein Zungenkuss ist keine “dem Beschlaf ähnliche Handlung”. Mit dieser Feststellung hat der Bundesgerichtshof ein Urteil des Landgerichts Kassel korrigiert und eine mildere Strafe verhängt. Das Landgericht hatte einen Mann wegen mehrerer Fälle von Kindesmissbrauchs verurteilt. Unter anderem sprach es bei einem Zungenkuss eine Strafschärfung aus, weil es diesen als gleichwertig mit dem Geschlechtsverkehr ansah.

Zwar reicht es nach Auffassung der Karlsruher Richter für eine beischlafsähnliche Handlung aus, wenn der Täter irgendwie in den Körper des Opfers eindringt. Allerdings müsse die Handlung schon ähnlich gravierende Folgen haben wie die “normale” Penetration. Letzteres sei bei einem Zungenkuss, den das Opfer als “eklig” beschrieben hatte, jedoch nicht der Fall. Ein Zungenkuss greife nicht so gravierend in die vom Gesetz geschützte sexuelle Entwicklung eines Kindes ein wie Geschlechtsverkehr oder andere Praktiken, zum Beispiel die Penetration mit dem Finger oder Gegenständen.

Das führt aber nicht dazu, dass der Angeklagte gar nicht bestraft wird. Der Bundesgerichtshof nahm lediglich die Verschärfung raus und verhängte für den Zungenkuss sechs Monate Freiheitsstrafe.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14. April 2011, 2 StR 65/11

Heirat mit Chinesin ist kein Kündigungsgrund

Eine Kündigung ist unwirksam, wenn sie wegen der Eheschließung des Arbeitnehmers mit einer Chinesin ausgesprochen wird. Die Kündigung hält nicht das notwendige „ethische Minimum“ ein und ist sittenwidrig, zumindest wenn der Arbeitgeber schon vor der Einstellung von der Beziehung wusste. Das hat das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein entschieden.

Der 47-jährige Kläger ist Ingenieur. Er war seit Mai 2006 als Leiharbeitnehmer bei der Firma eingesetzt, die auch die Bundeswehr beliefert. Seit 2007 fuhr er regelmäßig nach China zu seiner dort lebenden heutigen Ehefrau. Vorher kontaktierte er jedes Mal die Sicherheitsbeauftragte der Firma, die zu keinem Zeitpunkt Bedenken äußerte. Ende 2009 bot die Arbeitgeberin dem Mann eine Festanstellung an.

Wegen der für Dezember 2009 in China geplanten Hochzeit sollte das Arbeitsverhältnis am 1. Februar 2010 beginnen. Schon am 5. März stellte die Arbeitgeberin den abgeworbenen Ingenieur unvermittelt frei. Begründung: Er sei durch seine Ehefrau und die familiären Beziehungen zu China ein Sicherheitsrisiko. Kurz danach stellte sie einen anderen Ingenieur ein, um den Kläger zu ersetzen. Dem Betriebsrat gelang es in der Folgezeit nicht, die Freistellung rückgängig zu machen und die Kündigung zu verhindern. Im Juni, rechtzeitig bevor das Kündigungsschutzgesetz nach sechs Monaten Anstellung Anwendung fand, kam die Kündigung. Sie war nunmehr auf “betriebsbedingte Gründe” gestützt.

Das Arbeitsgericht hat in erster Instanz die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass keine Gesetzesverstöße vorlägen. Die Arbeitgeberin habe subjektiv an Befürchtungen einer möglichen Industriespionage angeknüpft. Das reiche als Rechtfertigung für diese Kündigung aus.

Das sah das Landesarbeitsgericht anders. Die Kündigung sei treu- und sittenwidrig. Die Arbeitgeberin habe unter Verletzung des Grundrechtes der Eheschließungsfreiheit ihr Kündigungsrecht für eine willkürliche Vorgehensweise missbraucht. Weil sie den Kläger in Kenntnis der familiären Bedingungen gezielt abgeworben habe und sich in Bezug auf seinen Arbeitsplatz und seine Tätigkeit nichts geändert habe, sei die plötzliche Einordnung als Sicherheitsrisiko, für die keine konkreten Fakten genannt wurden, willkürlich.

Der Kläger sei nur durch eine andere Arbeitskraft ausgetauscht worden. Der Kündigungsentschluss habe schon bei der Freistellung bestanden, was der Betriebsrat auch bestätigt habe. Der angeführte betriebsbedingte Kündigungsgrund sei daher nur vorgeschoben. Die Kündigung verstoße gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“. Die Beklagte habe den Kläger willkürlich zu ihrem Spielball gemacht.

Das Arbeitsverhältnis ist schließlich vor dem Landesarbeitsgericht auf Antrag des Klägers gegen Zahlung einer Abfindung von sieben Monatsgehältern aufgelöst worden.

Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 22.06.2011, Aktenzeichen 3 Sa 95/11

Licht ausschalten kann strafbar sein

Wer beim Autofahren das Licht ausschaltet, damit die Polizei das hintere Nummernschild nicht ablesen kann, macht sich wegen Kennzeichenmissbrauchs strafbar. Das hat das Oberlandesgericht Stuttgart entschieden.

Ein Jugendlicher hatte versucht, mit seinem Auto einer Polizeistreife davonzufahren. Dabei schaltete er das Licht aus, um unerkannt zu bleiben. Deshalb wurde er in erster Instanz auch wegen “Kennzeichenmissbrauchs” verurteilt. Auf diese Tat steht immerhin bis zu ein Jahr Gefängnis.

Dabei kann man sich schon fragen, ob so ein Verhalten wirklich unter den Straftatbestand fällt. Dort heißt es:

Wer in rechtswidriger Absicht … das an einem Kraftfahrzeug oder einem Kraftfahrzeuganhänger angebrachte amtliche Kennzeichen verändert, beseitigt, verdeckt oder sonst in seiner Erkennbarkeit beeinträchtigt, wird … mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr … bestraft.

Ist das Ausschalten des Lichts eine Beeinträchtigung der Erkennbarkeit? Andere Gerichte hatten durchaus schon Zweifel, ob man wegen des Bestimmtheitserfordernisses von Gesetzen die Manipulation nicht auf Veränderungen direkt am Nummernschild beschränken muss. Diese Bedenken teilt das Oberlandesgericht Stuttgart nicht und formuliert:

Das Ausschalten der Kennzeichenbeleuchtung bei Dunkelheit entspricht dem Verdecken des Kennzeichens bei Tageslicht.

Maßgeblich ist für die Richter, dass jeder in Deutschland zugelassene Wagen eine Kennzeichenbeleuchtung haben muss. Sie muss so stark sein, dass das Nummernschild auf 20 Metern abgelesen werden kann. Wer nun die gesamte Fahrzeugebeleuchtung ausschalte, um unerkannt zu entkommen, verwirkliche den Tatbestand.

Muss nun jeder eine Vorstrafe fürchten, bloß weil an seinem Auto die Kennzeichenbeleuchtung defekt ist? So weit wollen die Richter am Oberlandesgericht dann doch nicht gehen. Sie verweisen darauf, dass stets eine “rechtswidrige Absicht” erforderlich ist. Wer also nur fahrlässig einen technischen Defekt nicht behebt oder ihn vielleicht gar nicht bemerkt, muss bei einer Kontrolle keine Strafanzeige fürchten, sondern kriegt ganz normal eine Verwarnung oder ein Bußgeld.

Oberlandesgericht Stuttgart, Beschluss vom 6. Juli 2011, Aktenzeichen 2 Ss 344/11

(via)

Wettbewerbliche Eigenart

Apple hat gestern seinem Konkurrenten Samsung des Vertrieb des Galaxy Tab 10.1 untersagen lassen. Das Landgericht Düsseldorf erließ eine einstweilige Verfügung, die für die EU mit Ausnahme der Niederlande gilt.

Nun ist die Antragsschrift von Apple aufgetaucht. Das Unternehmen beruft sich über viele Seiten hinweg auf seine innovative Geschäftspolitik und den “Kultstatus” seiner Produkte. Samsung wird dagegen als plumper Plagiator dargestellt, dem selbst nichts einfällt.

Unbestritten ist, dass Apple mit dem iPhone Mobiltelefonen ein neues Gesicht gegeben und die App-Mania ausgelöst hat. Den Tabletmarkt hat Apple mit dem iPad ebenfalls zum Leben erweckt. Aber reicht das, um die Konkurrenz von der Vermarktung ähnlicher Produkte auszuschließen – noch dazu über vermeintliche Exklusivrechte an einem Design, das sich ohnehin durch Minimalismus auszeichnet?

Immerhin liegt es ja nicht allzu fern, ein Tablet flach, rechteckig, mit wenigen Knöpfen und einer Glasscheibe oben drauf zu gestalten und es in den Farben Schwarz und Weiß anzubieten. Auch bei Fernsehern hat man beispielsweise nicht erst seit gestern das Problem, dass sich diese meist nur durch den Herstellernamen auf der Frontseite unterscheiden lassen.

Dass Apples Produkte auch heute noch immer wieder an das Design der Altmarke Braun erinnern, tut im aktuellen Streit wohl nichts zur Sache. Es belegt aber, dass Ideen in den seltensten Fällen aus dem Nichts entstehen – nicht mal in Cupertino.

Hotelportal muss Kommentare nicht prüfen

Ein Berliner Hotelbetreiber ist vor dem Kammergericht mit dem Versuch gescheitert, einem Schweizer Hotelbewertungsportal die künftige Veröffentlichung kritischer Nutzerkommentare über eines seiner Hostel gerichtlich untersagen zu lassen.

In einem Kommentar hatte eine Nutzerin geschrieben: „Für 37,50 € pro Nacht u. Kopf im DZ gabs Bettwanzen“. Eine Angestellte des Hostels habe erklärt, dies komme schon mal vor. Die verseuchten Zimmer seien erst auf mehrmalige telefonische Nachfrage geschlossen worden.

Auf Beanstandung des Hotelbesitzers hatte das Portal den Kommentar gesperrt und erklärt, der Kommentar werde nicht mehr online gestellt.

Das Landgericht hat den Antrag zurückgewiesen, der Betreiberin der Internetseite die künftige Verbreitung dieser und anderer Behauptungen im Wege einer einstweiligen Verfügung zu untersagen. Sie sei ihren Pflichten hinreichend nachgekommen, indem sie die negative Bewertung auf die nachträgliche Beschwerde hin offline gestellt habe.

Dem ist das Kammergericht im Berufungsverfahren gefolgt. Das Bewertungsportal als Teledienstanbieter sei nicht verpflichtet, Kommentare vor Veröffentlichung auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Eine Vorabprüfung sei auch nicht im Hinblick auf eine “besondere” Gefahr geboten, weil die Kommentare anonym abgegeben werden könnten.

Die Vielzahl von Bewertungen erlaube es dem Benutzer des Portals, Einzelstimmen kritisch einzuordnen und „Ausreißer“ zu erkennen. Ferner sei ein Schutz des bewerteten Tourismusunternehmens gewährleistet, weil es sich beschweren und die Kommentare vorläufig abschalten lassen könne. Ins Gewicht falle zusätzlich die in den Nutzungsbedingungen enthaltene Verpflichtung der Nutzer, keine vorsätzlich oder fahrlässig unwahren Inhalte ins Netz einzustellen.

Das Bewertungsportal sei auch nicht gehalten, vor der Veröffentlichung einer negativen Bewertung dem betroffenen Tourismusunternehmen Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu zu geben.

Kammergericht Berlin, Beschluss vom 15. Juli 2011, Aktenzeichen  5 U 193/10

Sehr unordentlich und verschmutzt

Ich zitiere aus einem Durchsuchungsbericht:

Die Wohnung war insgesamt sehr unordentlich und verschmutzt. Es lagen überall Sachen auf dem Boden verstreut. Die Wohnung war, insbesondere die Küche, schon längere Zeit keiner Reinigung oder Müllentsorgung mehr unterzogen worden.

Abgesehen dass man dies alles auf den von der Polizei geschossenen Fotos der Durchsuchung sehr gut selbst erkennen kann, frage ich mich, was solche Feststellungen letztlich für einen Sinn haben. Immerhin ging es hier nicht um den Verstoß gegen Hygienevorschriften, sondern um ein Internetdelikt.

Ob der Beschuldigte auf properen oder schmuddeligen 46 Quadratmetern lebt, tut da für die Wahrheitsfindung eigentlich nichts zur Sache. Dennoch sind polizeiliche Anmerkungen zur Sauberkeit in Durchsuchungsberichten eher die Regel denn die Ausnahme. Aber in gewisser Detailfreude seltsamerweise nur, wenn die Wohnung schmutzig ist.

Ein blitzsauberer Haushalt wird allenfalls ganz beiläufig erwähnt. Immerhin ein Signal dafür, was für Polizeibeamte eine erwähnenswerte Abweichung von der Norm ist. Obwohl man deshalb selbstverständlich längst noch nicht weiß, wie es bei ihnen zu Hause aussieht.

Google siegt gegen Sick

Für den Autor Bastian Sick (“Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod”) lief es zunächst gut in seinem Rechtsstreit gegen Google. Sick hatte erfolgreich wegen eines aus seiner Sicht missverständlichen Suchergebnisses bei Google geklagt, von dem er sich verunglimpft fühlte. Nun hat das Kammergericht Berlin sich aber letztlich auf die Seite von Google geschlagen. Es wies Sicks Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung endgültig zurück. In seinem Beschluss präzisiert das Kammergericht die Rechtsgrundlage für Suchmaschinen in Deutschland.

Ausgangspunkt des Streits war ein Suchtreffer, den Google anzeigte. Dieses “Snippet” verwies auf einen Artikel in der Tageszeitung Die Welt. Es las sich so, als habe Sick, der ja auch vor Publikum auftritt, einen wirklich schlechten Abend gehabt. So zeigte Google unter anderem folgenden Ausschnitt aus dem Artikel:

Showbusiness: Eklat – Bastian Sick tritt unter Buhrufen ab…

Der Beitrag in der Welt war aber eine Satire. Das war beim Lesen des Artikels auf Welt online leicht zu erkennen. Aber halt nicht für jemanden, der nur das Snippet auf der Seite von Google las. Dummerweise, zumindest aus Sicht des Autors, tauchte das Snippet aber prominent unter den ersten Suchtreffern auf, wenn man “Bastian Sick” eingab. Sick empfand das als Herabsetzung seiner Persönlichkeit und beantragte eine einstweilige Verfügung gegen Google.

Mit diesem Antrag ist er nun endgültig vor dem Kammergericht Berlin gescheitert. Dabei hat Google auch etwas Glück gehabt, denn während des Verfahrens änderte sich die Zuständigkeit am Kammergericht. Der nun mit der Sache betraute 10. Zivilsenat distanziert sich in seinem nun bekanntgewordenen Beschluss vom 25. Juli 2011 von Vorgängerrichtern des 9. Senats. Diese hatten in einer früheren Entscheidung noch gemeint, Google müsse dafür sorgen, dass die Suchergebnisse den verlinkten Inhalt richtig angeben und keine Missverständnisse auftreten.

Die nun zuständigen Richter wählen dagegen einen anderen Ansatz. Sie betonen ausdrücklich, jede Äußerung müsse auch im Rahmen “der vom Medium und der Technik vorgegebenen Verhältnisse” gesehen werden. Bei Google und anderen Suchmaschinen liege die Besonderheit darin, dass der Inhalt des Webs vollautomatisch erfasst werde.

Demgemäß gehe ein Nutzer nicht davon aus, ein angezeigtes Suchergebnis sei vollständig. Das ersehe er auch schon an den teilweise unvollständigen Sätzen. Damit sei aber auch klar, dass ein Snippet eine Website nicht inhaltlich zusammenfasst, sondern nur einen – zufälligen – Auszug hieraus wiedergibt. Wörtlich:

Eine automatisch generierte auszugsweise Vorschau enthält ein Snippet auch dann, wenn er sich nicht im Rahmen der Kernaussage der verlinkten Zielseite hält. Auch in einem solchen Fall “entfällt” der Nutzen einer Suchmaschine nicht. Denn eine Suchmaschine dient nicht der Zusammenfassung des Inhalts von Internetseiten, sondern deren Auffinden.

Insgesamt kann das Kammergericht also gar keine Persönlichkeitsrechtsverletzung des Autors erkennen. Damit war Google auch nicht verpflichtet, das Snippet manuell herauszunehmen, nachdem Bastian Sick sich darüber beschwert hatte.

Eine Revision ließ das Kammergericht nicht zu. Sick kann allerdings noch das Hauptsacheverfahren betreiben.

Kammergericht Berlin, Beschluss vom 25. Juli 2011, Aktenzeichen 10 U 59/11

Früherer Bericht im law blog

Gäfgen wird sein Geld bekommen

Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet die Staatsanwaltschaft Frankfurt ermöglicht es dem verurteilten Kindesmörder Magnus Gäfgen, in den Schlagzeilen zu bleiben. Gäfgen kann nämlich dank pfiffiger Staatsanwälte demnächst einen neuen Prozess gegen den Staat führen – und wird ihn aller Voraussicht nach sogar gewinnen.

Eine Frankfurter Oberstaatsanwältin erklärte heute, die gestern von Gäfgen vor dem Landgericht Frankfurt erstrittene Entschädigung von 3.000 Euro werde mit seinen Schulden aufgerechnet. Mit 71.000 Euro soll Gäfgen bei der Justizkasse in der Kreide stehen; hierbei handelt es sich um die Kosten des gegen ihn geführten Strafverfahrens.

Grundsätzlich ist es zulässig, dass der Staat eigene Forderungen mit Ansprüchen eines Verurteilten aufrechnet. Aber kein Grundsatz ohne Ausnahme. Für Entschädigungen, die auf einer Verletzung der Grund- und insbesondere der Menschenrechte des Betroffenen beruhen, darf der Staat diese Aufrechnung jedenfalls nicht erklären.

Dies hat der Bundesgerichtshof erst vor wenigen Wochen in aller Deutlichkeit entscheiden. In diesem Fall hatte ein Häftling wegen menschenunwürdiger Unterbringung geklagt. Er erhielt ebenfalls eine Entschädigung zugesprochen. Auch diesen Betrag wollte die Justiz mit den Verfahrenskosten verrechnen. Der Bundesgerichtshof sieht hierin einen Verstoß gegen Treu und Glauben:

Eine   Zulassung der  Pfändung   eines aus einer menschenunwürdigen       Haftunterbringung       herrührenden       Entschädigungsanspruchs zur Befriedigung offener Verfahrenskosten würde die Funktion der Genugtuung, der Sanktion und der   Prävention   ebenso   ins  Leere   laufen   lassen   wie   die   Zulassung   einer   Aufrechnung. Denn mit dem Zugriff auf die Forderung des Strafgefangenen würden deren nachteilige Wirkungen verblassen.

Der Staat würde sich, so die Richter, auf diese Weise eine    Befriedigung     der   wirtschaftlich  wertlosen      Forderung     verschaffen und gleichzeitig den mit der Zuerkennung des Entschädigungsanspruchs verfolgten Zweck umgehen.

Das Landgericht Frankfurt hat die Entschädigung schon in der mündlichen Urteilsbegründung ausdrücklich als “Strafe für das Land Hessen” bezeichnet. Auch hier wird es der Justiz also nicht möglich sein, mittels eines Tricks den mit der Strafe verbundenen Zweck zu vereiteln.

Entweder kennt die Oberstaatsanwältin die Entscheidung nicht. Oder sie ignoriert sie bewusst, um ihre Behörde entgegen der Rechtslage markig als “Retter in der Not” zu präsentieren. Der spätere Reinfall ist jedenfalls programmiert – und Gäfgen wird sich erneut im Licht der Öffentlichkeit sonnen.  

Es muss davon ausgegangen werden

Herr E. soll etwas angestellt haben. Sein Name und seine Adresse waren aber unbekannt – bis ihn eine Zeugin vor einem Internetcafé sah. Sie rief die Polizei. Ein Streifenwagen kam raus. Die Beamten notierten sich lediglich Herrn E.s Personalien und nahmen eine Kurzbeschreibung ins Einsatzprotokoll. Interessant ist hier folgender Satz:

Die Person hatte kurze, hochgestellte schwarze Haare.

Der zuständige Kommissar lud erst Herrn E. zur erkennungsdienstlichen Behandlung. Einige Tage später bestellte er die Zeugin zu einer sogenannten Wahllichtbildervorlage. Er zeigte der Zeugin Fotos von 8 Männern. Die Nr. 7 war Herr E. Auf dem Foto, das aus der erkennungsdienstlichen Behandlung stammte, hatte er nur Stoppelhaare. Die Zeugin meinte ihn zu erkennen, merkte aber an, bei dem Vorfall habe E. “kurze Haare” gehabt.

Der Kommissar schrieb dazu in seinen Abschlussvermerk:

Als die Personalien des E. festgestellt wurden, hatte er nach Feststellung der eingesetzten Kollegen “kurze, hochgestellte schwarze Haare”. Es muss also davon ausgegangen werden, dass er sich die Haare auf dem Kopf abrasiert hat, um eine Wiedererkennung durch die Geschädigte zu erschweren.

Muss wirklich davon ausgegangen werden? Auch dem Polizisten dürfte nicht entgangen sein, dass der Vorfall selbst schon mehr als zwei Monate zurücklag, als Herr E. von sich Bilder machen lassen musste.

Liegt es nicht ebenso im Bereich des Möglichen, dass Herr E. schlicht und einfach beim Friseur war und sich die Haare so schneiden ließ, wie er sie sich immer schneiden lässt?

Selbst zwischen seiner Kontrolle vor dem Internetcafé und den Fotoaufnahmen im Polizeipräsidium lagen wiederum zwei Wochen. Und möglicherweise hatte er bei dem eigentlichen Vorfall ja etwas längere (wenn auch kurze) Haare, weil er sowieso wieder zum Friseur wollte.

Aber nein, es wird erst mal ohne jede Tatsachengrundlage unterstellt, dass Herr E. seine Identifizierung erschweren wollte. Nichts als Spekulation also, zumal der Beamte Herrn E. noch nicht mal gefragt hat, warum er mit einem Bundeswehrschnitt auf dem Präsidium erscheint. Dazu gäbe es durchaus Grund. Immerhin steht in den Vorladungen zur ED-Behandlung ja keine Warnung, dass einem unterstellt wird, man wolle die eigene Identifizierung erschweren, wenn man mit einer (leicht) anderen Frisur erscheint.

Wenn so eine Bewertung zu Papier gebracht ist, wird sie später natürlich auch gelesen und beeinflusst die Stimmung. Aber genau das ist es ja auch, was dieser Polizist will. Er beendet praktisch keine Ermittlung, ohne dass aus seinem Abschlussvermerk nicht irgendwelches Ressentiment gegen den Beschuldigten trieft.

Seriöse Arbeit sieht für mich anders aus.

Was man alles so auf Videos sehen kann…

Sehr schlau vom Angestellten eines Elektromarkts, Geldbörse und Handy in eine Schublade am Infoterminal zu legen – und diese Schublade auch noch offen stehen zu lassen. Eines Abends waren die Wertsachen weg, und die hauseigene Security checkte die Überwachungsvideos. Die spätere Auswertung durch die Polizei ergab dann den Verdacht, mein Mandant sei Mittäter oder Gehilfe des Diebstahls. Bemerkenswert an der Geschichte ist, wie sich der zuständige Krip-Beamte das alles gemeinsam mit Verkäufern des Elektromarktes zusammengereimt hat.

Der Angestellte sah auf dem Videoband, dass mein Mandant um 19:31 Uhr und 5 Sekunden den Elektromarkt betrat. Er erinnerte sich, dass mein Mandant schon mal am Nachmittag da gewesen war; er hatte einen Blue-Ray-Player gekauft. Fakt ist weiter, dass derjenige, der in die Schublade griff, um 19.30 Uhr und 36 Sekunden den Markt betrat. Das war etwa eine halbe Minute, bevor mein Mandant abends durch die Eingangsschleuse ging.

Um 19.33 Uhr und 31 Sekunden greift der Dieb in die Schublade. Er nimmt das Handy und die Geldbörse an sich und verlässt zügig den Laden. Nun haben die Kameras aber auch aufgezeichnet, dass mein Mandant in diesem Augenblick ungefähr zehn Meter weiter an einer Auslage steht. Dort spricht er mit dem einzigen Mitarbeiter, der um diese Uhrzeit in der Abteilung Dienst gehabt haben soll.

Die Polizei legte das nun so aus, dass mein Mandant den Dieb kennt und den “einzigen Zeugen” (so steht es in der Anzeige) ablenkte, damit die Tat nicht auffällt. Als unschlagbarer Beweis wird eine weitere Videosequenz herangezogen. In der geht mein Mandant an eben jenem Infoterminal vorbei. Wenn man viel Fantasie aufbringt, könnte man der Meinung sein, mein Mandant habe abends im Vorbeigehen in Richtung der offenen Schublade des Infoterminals geguckt. Ebenso fair muss man aber feststellen, dass der gerade Weg vom Eingang zu dem Regal, an dem mein Mandant mit dem Verkäufer sprach, an diesem Infoterminal vorbeigeht.

Dass mein Mandant keine redlichen Absichten hatte, leitet die Polizei übrigens aus dem Umstand her, dass er schon zum zweiten Mal an diesem Tag in den Markt gekommen ist. Da kann doch was nicht koscher sein – sagt zumindest die kriminalistische Erfahrung. War es aber wohl doch. Mein Mandant berichtet jedenfalls recht glaubwürdig, dem Player habe kein HDMI-Kabel beigelegen. Den Verkäufer, den er angeblich bewusst ablenkte, will er nur nach einem passenden Kabel gefragt haben.

Interessanterweise gibt es keine Sequenz, auf der mein Mandant und der Dieb nahe zusammen sind. Oder gar miteinander sprechen. Aber auch das irritierte den Polizeibeamten nicht. Denn er schreibt, der Verkäufer habe gesagt, er habe das Gefühl gehabt, dass sich die beiden kennen. Worauf dieser Eindruck beruhte, ist leider nicht festgehalten.

Womöglich hat sich der Beamte auch gedacht, er kann es ja mal versuchen. Von meinem Mandanten war nämlich Name und Adresse im System des Elektromarktes. Die Daten hatte er nachmittags angegeben, als er den Blu-Ray-Player kaufte. Vom eigentlichen Dieb gibt es dagegen nur das Video. Aber diese Person erkannte niemand.

Der einzige Anknüpfungspunkt waren also Name und Adresse meines Mandanten. In die Bilder wurde also enorm viel hineininterpretiert, was gar nicht zu sehen ist. Womöglich nur um meinen Mandanten mal auf gut Glück vorladen zu können. Die Freude, nun Beschuldigter zu sein, hätte also an sich jeden treffen können, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist – obwohl er selbst gar nichts Böses macht.

Positiv ist, dass der Staatsanwalt wohl ebenfalls keine Fakten sah, um einen Anfangsverdacht gegen meinen Mandanten zu hegen. Auf mein dreiseitiges Schreiben, in dem ich die Videoaufnahmen etwas anders als die Kripo interpretiere, stellte er die Sache “mangels Tatverdachts” ein.

Auf den Anwaltskosten bleibt mein Mandant allerdings sitzen. Insofern war das “Schnäppchen” in Form des Blu-Ray-Players am Ende doch keins.

Steuer-ID fördert Datenmissbrauch

Vier Jahre nach Einführung der Steueridentifikationsnummer kritisiert der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Peter Schaar, dass die Steuer-ID zunehmend auch außerhalb der Steuerverwaltung genutzt wird.

Seine Befürchtungen hinsichtlich der zunehmenden Verwendung der Steuer-ID in den verschiedensten Lebensbereichen hätten sich leider bestätigt. Die Verwendung der Steuer-ID werde schleichend ausgeweitet.

Nicht nur Finanzbehörden, sondern auch Banken, Versicherungen und Krankenkassen verwenden mittlerweile die Steuer-ID. Wer heute ein Konto eröffnen will oder Elterngeld beantragt, muss dafür meist seine Steuer-ID angeben. Damit, so Schaar, droht die Steuer-ID durch die Hintertür zu einem allgemeinen Personenkennzeichen zu werden.

Genau das hatten die Verantwortlichen laut Schaar bei Einführung aber bestritten. Sie waren der Auffassung, die Steuer-ID werde lediglich von den Finanzbehörden verwendet. 

Durch die Steuer-ID wurden erstmals alle Bundesbürger in einer zentralen Datenbank dauerhaft erfasst. Schaar: “Durch die Erweiterung der unter der Steuer-ID gespeicherten Daten etwa um Angaben zur Religionszugehörigkeit oder zu Familienangehörigen hat der Staat einen umfangreichen zentralen Datenbestand geschaffen, der für verschiedene Stellen von Interesse ist.”

Schon diese Daten enthielten Informationen über Lebensumstände eines jeden Bürgers. Wenn zudem auch weitere Dateien über die Steuer-ID verknüpfbar würden, verstärke sich die Gefahr der Bildung aussagekräftiger Persönlichkeitsprofile. Dies sei besonders bedenklich, wenn es ohne Kenntnis der Betroffenen geschehe.

Keine Menschen zweiter Klasse

Der zu lebenslanger Haft verurteilte Kindermörder Magnus Gäfgen hat vom Land Hessen eine Entschädigung erstritten. Er erhält 3.000 Euro dafür, dass ihm Polizeibeamte “unvorstellbare Schmerzen” angedroht haben für den Fall, dass er nicht sagt, wo sich ein von ihm entführtes Kind befindet. Für die Drohung waren die Polizeibeamten bereits zu Geldstrafen auf Bewährung verurteilt worden.

Das Landgericht Frankfurt fand klare Worte zu dem Verhalten der Beamten. Es handele sich um eine schwerwiegende Rechtsverletzung, für die das Land einzustehen habe. Auch jemand, der so eine Tat wie Gäfgen begangen habe, habe Anspruch auf Achtung seiner Menschenwürde. Bei der Frage nach dem Schmerzensgeld sei es "gänzlich unerheblich und darf schlechthin nicht berücksichtigt werden, dass der Kläger zuvor eine Straftat begangen hat".

Allerdings blieb das Gericht weit unter der Forderung Gäfgens. Das ergibt sich aus der Verteilung der Verfahrenskosten. Gäfgen muss vier Fünftel tragen – er hat also in entsprechender Höhe “verloren”. Das lag wohl daran, dass ein Gutachter nicht bestätigen konnte, dass Gäfgens psychische Probleme auf der damaligen Folterdrohung beruhen.

Im Ergebnis stellt das Landgericht Frankfurt klar, es gibt keine Menschen zweiter Klasse. Grundrechte können nicht relativiert oder gar aberkannt werden. Weder der Staat noch die moralische Empörung einer (möglichen) Mehrheit der Bevölkerung kann daran etwas ändern.

Sie wollen nur dein Bestes

Um eine Hausdurchsuchung zu rechtfertigen, ist manchem Gericht kein Argument zu blöd. Das mit Abstand dösigste ist: Die Durchsuchung beim Beschuldigten wurde auch angeordnet, um möglicherweise entlastende Beweise zu finden. Seltsamerweise greifen Gerichte immer mal wieder zu diesem juristischen Taschenspielertrick.

Denn um nichts anderes handelt es sich. Das Grundrecht des Beschuldigten verletzen, in seiner Privatsphäre rumtrampeln – und das alles (auch) zu seinem vermeintlichen Wohl. Wer schon mal eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen musste, die als solche ja schon eine private oder berufliche Existenz gefährden kann, wird den Zynismus in dieser Begründungskette noch am eigenen Leibe spüren.

Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt erneut klargestellt, dass die Grundrechte eines Betroffenen nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen, um ihm vordergründig zu helfen. Ein Landgericht hatte die Hausdurchsuchung bei einem Rechtsanwalt damit verteidigt, man habe ja auch entlastendes Material finden wollen.

Die Verfassungsrichter erteilen dem “fürsorglichen Staat” die nötige Absage in einem Satz:

Das Auffinden etwaigen entlastenden Materials kann den Grundrechtseingriff – entgegen der Auffassung des Landgerichts – nicht rechtfertigen, weil es dem Beschwerdeführer ohne weiteres möglich gewesen wäre, solches Material im Rahmen seiner Verteidigung selbständig vorzulegen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 5. Mai 2011, Aktenzeichen 2 BvR 1011/10