Wie Sachsens Justiz Journalisten antwortet

Ein sächsischer Journalist stellte dem Amtsgericht Weißwasser Fragen. Er wollte wissen, ob und in welchem Umfang ein dort tätiger Richter nebenberuflich Thailand-Reisen organisiert. In seiner Anfrage erwähnte er auch, dass der Anbieter sich durch den Begriff “Spezialreisen” von seinen Wettbewerbern abgrenzt.

Statt einer vernünftigen Antwort flatterte dem Journalisten nun ein Strafbefehl ins Haus. Natürlich vom Amtsgericht Weißwasser. Der Vorwurf: Der Journalist soll den Richter beleidigt haben, denn die Verwendung des Begriffs Spezialreisen beinhalte den Vorwurf, der Betreffende sei auf dem Gebiet des Sextourismus tätig.

Hierbei dürfte es sich um eine sehr einseitige Interpretation handeln. Der Journalist beteuert jedenfalls, dass er in seiner Anfrage lediglich den Begriff Spezialreisen aufgegriffen und keinerlei Unterstellung damit verbunden hat. Der Betroffene will sich gegen den Strafbefehl wehren. Er wird von Journalistenverbänden unterstützt, die einen Einschüchterungsversuch gegenüber der Presse sehen.

Das tue ich auch.

Näheres in einem Video des NDR-Magazins ZAPP.

Bürger muss nicht schlauer sein als der Zoll

Muss ein Nichtjurist schlauer sein als der Zoll?

Auf diese Frage musste jetzt das Finanzgericht Hamburg eine Antwort geben.

Darum ging es: Der Kläger hatte online im Ausland einen Blu-ray-Player bestellt. Das Gerät kostete 500 Euro. Bei Abholung des Players beim Zollamt meldete der Kläger die Einfuhr ordnungsgemäß an. Der diensthabende Zollbeamte besprach sich mit einem Kollegen, gab die Daten in das EDV-System ein und setzte gegenüber dem Kläger in einem mehrseitigen Einfuhrabgabenbescheid Abgaben in Höhe von 88,68 EUR fest. Der Kläger zahlte diesen Betrag.

Der Kläger war schon auf dem Weg zu seinem Filmabend, als die Zollbeamten einen Fehler bemerkten. Sie hatten zu geringe Abgaben berechnet. Das Zollamt erhob Einfuhrabgaben in Höhe von weiteren 77,21 EUR. Eine nachträgliche Erhöhung der Abgaben ist nach den Zollvorschriften nur sehr eingeschränkt möglich. Zur Begründung hieß es deshalb im zweiten Bescheid, der Kläger habe durch schlichtes Nachlesen der einschlägigen Gesetzesvorschriften den Fehler selbst bemerken können. Deshalb gelte für ihn kein Vertrauensschutz.

Der bisher vom Abgabenrecht unbeleckte Bürger wollte sich das nicht gefallen lassen und klagte vor dem Finanzgericht Hamburg. Der 4. Senat gab ihm nun recht.

Die Richter meinen, der Kläger habe darauf vertrauen dürfen, dass Zollbeamte über die erforderliche Sachkunde verfügen. Es sei lebensfremd und vom Kläger nicht zu verlangen, sich selbst während der nur etwa 15 Minuten dauernden Zollabfertigung über die zutreffende Höhe der Einfuhrabgaben zu informieren.

Abgesehen davon, dass die zollrechtlichen Bestimmungen dem Kläger im Zollamt nicht zur Verfügung gestanden hätten, könne vom Bürger nicht erwartet werde, dass er sich in den zollrechtlichen Bestimmungen, die nicht nur unübersichtlich und schwer verständlich seien, sondern jedes Jahr auch mehrere Tausend Seiten umfassten, besser auskenne als der Zoll.

Dem Finanzgericht war dieses Urteil offenbar besonders wichtig. Es erging schon sechs Wochen nach Klageerhebung. Ein Temporekord für die ansonsten eher gemächlichen Finanzgerichte.

Finanzgericht Hamburg, Aktenzeichen 4 K 63/11

Strategie und Psychologie

Wenn es um Beleidigung und Körperverletzung geht, muss man als Anwalt nicht immer durch die Wand. Ich jedenfalls lasse eine spezielle Verteidigungsstrategie nie aus dem Auge. Die zieht zwar selten, hat im Erfolgsfall aber einen durchschlagenden Effekt. Der Trick besteht darin, am Ende des Tages für gutes Wetter zu sorgen und den Zeugen dafür ein kleines Zugeständnis abzuringen, wenn sie vor Gericht aussagen – die Rücknahme des Strafantrags.

So was klappt nicht, wenn sich Zeugen und Angeklagter abgrundtief hassen und sich wechselseitig alles Übel der Welt an den Hals wünschen.  Aber der Fall, mit dem ich heute zu tun hatte, schien mir einen Versuch wert. Mein Mandant soll einen Autofahrer mit dem Stinkefinger beleidigt haben. Zu einem Busfahrer soll er außerdem gesagt haben: “Hätten Sie besser in der Schule aufgepasst, müssten Sie heute nicht Bus fahren.”

Die Staatsanwaltschaft kam zu ihrer Anklage, weil sie in ihrer unnachahmlichen Gabe zu selektiver Wahrnehmung das sonstige Geschehen ausblendete. So hatte sich der Autofahrer dermaßen über einen angeblichen Vorfahrtsverstoß meines Mandanten geärgert, dass er zum Auto meines Mandanten ging, die Tür aufriss und hineinbrüllte: “Du bist wohl nicht ganz dicht!” Mein Mandant hatte sogar noch die Scheibe hochgedreht, als er den Zeugen heranpreschen sah. So viel zu der Frage, von wem die Aggression ausging.

Der Busfahrer mischte sich später in die Diskussion ein. Und zwar mit den denkwürdigen Worten: “Typisch, mal wieder ein Weiß-Blauer.” Damit meinte er die bayerische Herkunft des Autos meines Mandanten. Über so eine freundliche Anrede erfreut, hat mein Mandant dann tatsächlich den Hättest-du-besser-mal-was-gelernt-Spruch gemacht.

An ihr eigenes Verhalten erinnerten sich die Zeugen nur widerstrebend. Was ja auch verständlich ist. Allerdings war genau das der Schlüssel, die Kurve zu kriegen. War die Vorgeschichte nach einem langwierigen, für die Zeugen auch durchaus unangenehmen Frage-Antwort-Spiel erst mal auf dem Tisch, ließ sich die Sache auf eine einfache Frage reduzieren: Hat hier nicht jeder was falsch gemacht? Und müssen echte Männer das wirklich vor Gericht regeln?

Letztere Frage habe ich etwas verklausuliert, denn ich wollte ja weder Richterin noch Staatsanwältin zu nahe treten. Bei den Zeugen kam die Botschaft jedoch an. Hintereinander stimmten sie mir zu, dass das ganze Verfahren doch eigentlich unnötig ist, wenn man sich mal offen in die Augen sieht und “sorry” sagt.

Ein Zeuge bot sogar von sich aus an, mit meinem Mandanten noch ein Bier trinken zu gehen. Vorher waren sie aber beide bereit, ihre Strafanträge zurückzunehmen. Ohne Strafantrag kann eine Beleidigung nicht verfolgt werden. Deshalb blieb dem Gericht nichts anderes übrig, als die Sache ohne Nachteile für meinen Mandanten einzustellen.

Ich sage immer, Strafverteidigung ist zu 85 Prozent Psychologie. Für die heutige Verhandlung würde ich den Wert gerne deutlich nach oben korrigieren.

Ledig, verheiratet, geschieden, verwitwet

Nimmt man es genau, wird der Angeklagte im Strafprozess zweimal vernommen. Einmal zur Person. Und einmal zur Sache. Bei der Vernehmung zur Sache, das heißt zum Tatvorwurf, ist eines klar: Der Angeklagte hat ein umfassendes Schweigerecht und muss nicht mal Piep sagen. Bei der Vernehmung zur Person sieht es etwas anders aus, und über Details durfte ich nun mit einem Richter diskutieren.

Mein Mandant hat sich geweigert, etwas zur Sache zu sagen. Dazu habe ich ihm geraten, und wir sind bislang damit gut gefahren. Angaben zur Person machte mein Mandant jedoch, wozu er auch gesetzlich verpflichtet ist.

Auf die Frage nach dem Familienstand sagte er: “nach deutschem Recht geschieden”. Das hat das Gericht akzeptiert. Nur kam jetzt der Vorsitzende Richter an einem weiteren Verhandlungstag betont beiläufig darauf zurück und wollte wissen, ob mein Mandant vielleicht doch verheiratet ist. Wenn auch womöglich “nur” nach ausländischem Recht. In der Ermittlungsakte befinden sich einige Dokumente, die darauf hindeuten. Allerdings nur vage; Belege gibt es nicht.

Die Frage des Gerichts hatte eine offensichtliche Zielrichtung. Mein Mandant wäre, wenn überhaupt, wahrscheinlich mit einer Frau verheiratet, die er als mögliche Scheingeschäftsführerin für Firmen eingesetzt haben soll. Eine Ehe mit dieser Frau käme den Strafverfolgern entgegen. Sie hätten damit persönliche Nähe belegt. Das wäre jedenfalls ein Indiz für die Vermutung, es handele sich um eine Strohfrau.

Ich habe für meinen Mandanten eine Antwort auf die Frage verweigert. Was den Richter dazu brachte, energisch auf den schon oben verlinkten § 111 Ordnungswidrigkeitengesetz zu pochen. Danach kann jemandem ein Bußgeld auferlegt werden, wenn er einer zuständigen Stelle seine Personalien verweigert. Das Gesetz zählt hierzu ausdrücklich auch den Familienstand.

Mein Standpunkt war ein anderer: § 111 Ordnungswidrigkeitengesetz dient zur Identitätsfeststellung. Das Gericht hatte und hat aber ersichtlich keine Zweifel daran, dass die “richtige” Person vor ihm sitzt. Was man schon daran sieht, dass die Nachfrage zu einer (ausländischen) Ehe lange nach Abschluss der Vernehmung zur Person gestellt wurde. Und interessanterweise gerade dann, als es um die Rolle der Geschäftsführerin ging.

Mit der Frage Strohfrau oder nicht steht und fällt aber der Tatvorwurf in unserem Verfahren. Eine Antwort meines Mandanten wäre also ausschließlich, jedenfalls aber zum überwiegenden Teil “zur Sache” erfolgt. In diesem Bereich gilt aber der eherne Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss und deshalb schweigen darf. Von diesem Recht wollten wir Gebrauch machen.

Ich dachte eigentlich, das Gericht droht jetzt mit der Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens. Aber womöglich war dem Richter klar, dass mein Mandant das Bußgeld (bis zu 1.000 Euro) notfalls auch wegsteckt. Ohnehin hätte ich für das Bußgeldverfahren mit einem Freispruch gerechnet. 

Vielleicht auch deshalb beließ es der Richter dabei zu verkünden, das Gericht gehe mangels Antwort nun davon aus, mein Mandant sei verheiratet.

Aus dem Schweigen eines Angeklagten positiv auf seinen Familienstand zu schließen, finde ich extrem mutig. Zumindest, wenn man nicht die letzte Instanz ist. Das Kernproblem ist aber ohnehin damit nicht gelöst. Ich meine die Frage, mit wem mein Mandant denn nun verheiratet ist. Selbst wenn eine Auskunftspflicht besteht, muss man nichts zur Person des Ehegatten sagen.

Der Betroffene kann es nämlich immer bei einer der vier folgenden Angaben belassen: ledig, verheiratet, geschieden, verwitwet.

Wir hätten uns also munter weiter im Kreise drehen können.

Mutterlose Tüten

Selbst abwiegen ist in Supermärkten längst aus der Mode. Ein Refugium des Selbstabwiegens sind Baumärkte, wo man als Kunde Schrauben und sonstige Kleinteile selbst eintüten kann und dann nach Gewicht oder Stückzahl abgerechnet wird.

Ein Leser hat mir hierzu eine Geschichte gemailt, die auch Rechtsfragen aufwirft. Ich habe ihm schon geantwortet, aber natürlich unter dem Vorbehalt, dass es die Zivilrechtsexperten unter meinen Lesern es nicht besser wissen.

Hier der Erlebnisbericht:

„Gestern Abend, kurz vor 20 Uhr, in einem hiesigen Baumarkt: Ich suche nach Sechskantmuttern. Die gibt es, wie viele Schrauben und Kleinteile dort zum Selbstabwiegen (sprich offene Packungen, Tütchen, eine Waage – wie beim Obst im Supermarkt). Die Preise richten sich nach Produktgruppe und Gewicht. Leider gab es da keine mehr in der Größe, die ich suchte.

Es lagen aber noch fertig abgepackte dort. Gleicher Hersteller, gleiches Produkt. Das hatte ich den Verkäufer dort gefragt und mir bestätigen lassen.

Der Haken: Die fertig abgepackten kosten mehr als 3x so viel wie die zum Selbstabwiegen, obwohl sie direkt jeweils nebeneinander liegen. Der Trick ist hier wohl, die Faulheit der Kunden auszunutzen. Aus etwa 1 Euro für ein paar lose Muttern werden dann über 3 Euro für verpackte Muttern.

Ich fragte, ob es nicht möglich wäre, die fertige Packung zu nehmen, diese abzuwiegen und offensichtlich (darauf habe ich mehrfach hingewiesen!) mit dem Schildchen – ohne etwas zu überkleben (auch darauf habe ich hingewiesen!) – an die Kasse zu gehen und darum zu bitten, dass man mir den günstigeren Preis machen könne.

Seine lapidare Aussage: Wenn Du das machst, wirst Du verhaftet und bekommst 100 Euro Vertragsstrafe wegen Betrugs.

Oh mein Gott. Dass er nicht noch dachte, das SEK würde anrücken…

Jeglicher Versuch, ihn irgendwie aufzuklären, ab wann der Betrug beginnt, und was er eben nicht ist, sind vermutlich an seinen überforderten und feierabendreifen Hirnzellen abgeprallt.

Mir kam dabei allerdings die Frage auf, inwieweit es eigentlich rechtlich zulässig oder eben unzulässig wäre, die Ware zu entnehmen und diese entnommene Ware abzuwiegen? Ich denke dabei bewusst an die Lektion aus Dr. Höckers Buch der Rechtsirrtümer, wo es um das Aufreißen der Verpackung geht.

Welchen Schaden würde ich (immer vorausgesetzt, es wäre zu 100% derselbe Inhalt) dem Baumarkt zufügen, und zu was wäre ich dann schadensersatzpflichtig? Immerhin wäre die nun mutterlose Verpackung problemlos wieder füllbar, wenn der Supermarkt lose Muttern als Nachschub bekommt.“

Typisches Gespräch

Die Polizei hat Telefongespräche abgehört. Dieses zum Beispiel:

Sven, ich bin es, die Daggi, kann ich mal vorbeikommen?

Ja, musst aber vorher nochmals bei mir anklingeln, wenn du unten stehst.

Ja, ich rufe dann von der Telefonzelle an, weil ich habe kein Geld drauf. Ich wäre um 3 bei dir.

Um 3, ja gut, um 3 gucke ich mal aus dem Fenster.

Ich klingel einfach, oder?

Nein, die Klingel ist aus.

Ach so, ja okay, gucke mal so um 3, 5 nach 3 aus dem Fenster.

Alles klar.

Bewertung der Beamten:

Es ist ein typisches Gespräch für eine Btm-Abnehmerin, die am Telefon nicht offen über Drogen sprechen will, aber bei ihrem Dealer Drogen holen will. Da Sven dem Kommen von Daggi zustimmt, ist auch davon auszugehen, dass er Drogen verfügbar hat und Daggi auch etwas verkaufen wird.

Vor jeder Benutzung

Kreditkarten, Reiseschecks, Versicherungen: Es gibt sicher Gründe, mal auf der Internetseite von American Express zu landen. Doch man darf dort nicht einfach so reingucken und sich informieren. Das ist nämlich gegen die “Regeln und Bestimmungen”, die der Konzern aufstellt:

American Express behält sich das Recht vor, diese Nutzungsbedingungen jederzeit ohne vorherige Ankündigung zu ändern. Bitte überprüfen Sie daher diese Nutzungsbedingungen regelmäßig vor jeder Benutzung unseres Internetangebotes auf Änderungen.

Also, Geduld mitbringen. Und eine große Lust auf Kleingedrucktes.

Bremen: Wählen wie in einer Bananenrepublik

Bremen hat gewählt, aber auf das endgültige Ergebnis müssen die Bürger warten. Frühestens am Mittwoch soll ein vorläufiges amtliches Endergebnis vorliegen. Schuld ist nach offiziellen Angaben das geänderte Wahlrecht, das komplizierte Stimmzettel hervorgebracht hat. Möglicherweise liegt es aber aber auch an einer zweifelhaften, für mich in Deutschland völlig neuen Auswertungsmethode der Stimmzettel. Ausgezählt wird in Bremen nämlich nicht mehr im Wahllokal, sondern an einem zentralen Ort. Ob das der Demokratie förderlich ist, darf bezweifelt werden.

Der Bremer Landeswahlleiter beschreibt die Änderungen:

Die Wahlurnen werden nach Schließung der Wahllokale (18:00 Uhr) mit Lastwagen zu einem zentralen Ort in der Stadt Bremen bzw. in der Stadt Bremerhaven gebracht, wo die Auszählungen erfolgen sollen.

Das klingt erst mal harmlos. Doch dann fällt es einem vielleicht auf. Kennt man die Praxis “Erst Transportieren, dann Auszählen” nicht aus Bananenrepubliken und Diktaturen? Dort ist die zentrale Auszählung deswegen so beliebt, weil der Transport der Urnen vom Bürger gar nicht, aber auch von bestellten Wahlvorständen nur eingeschränkt überwacht werden kann. Auf dem (nächtlichen) Weg vom Wahllokal zur zentralen Auszählungsstelle kann, dafür braucht es nicht übermäßiger Phantasie, so einiges passieren.

Ich sage nicht, dass die Bremer Wahlen manipuliert wurden. Aber eine Stadtrundfahrt ausgefüllter, aber ungezählter Wahlzettel schafft eine unnötige Lücke, die ausgenützt werden kann. Gelegenheit schafft Diebe – und irgendwann natürlich auch Wahlfälscher.

Genau deshalb gilt die unmittelbare Stimmauszählung im Wahllokal nicht nur als gute Idee, sondern zählt auch zu den anerkannten Grundsätzen für eine transparente Wahl. Denn eines kommt hinzu: Nur bei direkter Auszählung vor Ort behält neben dem Wahlvorstand eine zweite wichtige Kontrollinstanz das Geschehen im Blick. Es ist der wahlberechtigte Bürger selbst.

Jeder Stimmberechtigte hat bei Wahlen in Deutschland das Recht, der Stimmauszählung beizuwohnen. Das ist sicherlich nicht vielen bekannt, aber ich kenne einige Leute, die immer kurz vor Schließung des Wahllokals ihre Stimme abgeben, um dem Wahlvorstand und seinen Helfern dann bei der Auszählung über die Schulter zu schauen. Wer das macht, ist kein Pedant oder Verschwörungstheoretiker, sondern legitimer Wahlbeobachter. Bei den Vereinten Nationen kann man sich um so eine Stelle sogar bewerben, wenn man mit der meist wohl eher kühlen Atmosphäre in jenen Gastländern klarkommt, die etwas zu verbergen haben.

Der Transport der Wahlurnen an einen “zentralen Ort” öffnet somit nicht nur eine Möglichkeit zur Manipulation. Er nimmt interessierten Bürgern auch die Möglichkeit, an Ort und Stelle von ihrem Recht auf Wahlbeobachtung Gebrauch zu machen, von dem wir alle profitieren. Oder anders gesagt: Wer kann sich in Bremen nun schon drei Tage Urlaub nehmen, um den Stimmzählern am “zentralen Auszählungsort” auf die Finger zu sehen?

Hoffentlich hat das Bremer Konzept außerhalb der Landesgrenze keine Zukunft. Unsicherheit nährt zwangsläufig Zweifel. Der Schaden für die Demokratie kann somit größer sein als der Nutzen einer bequemen Auszählung.

Ein Akt der deutschen Behörden

Damit es später keine Missverständnisse gibt: Ein deutscher Staatsanwalt ist nicht verpflichtet, Server zu beschlagnahmen – bloß weil ausländische  Ermittlungsbehörden das von ihm verlangen. Es gibt da keinen Automatismus wie zum Beispiel beim Europäischen Haftbefehl.

Die Staatsanwaltschaft Darmstadt hatte also in eigener Regie und anhand der deutschen Gesetze zu prüfen, ob sie vom Bundeskriminalamt, wie heute geschehen, die Server der Piratenpartei vom Netz nehmen, einpacken und / oder spiegeln lässt.

Netzpolitik.org schreibt zu den HIntergründen:

Einem Bericht von “DRadio Wissen” nach haben Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) auf einem der Server “strafrechtlich relevantes Material” gefunden mit dem zu “Hackerangriffen” aufgerufen worden sei. Die ganze Sache dreht sich dabei um ein sog. “Piratenpad”, eine von der Piratenpartei betriebene Etherpad-Instanz bei der kollaborativ an Texten gearbeitet und gechattet werden kann und die für jedermann offen zur Verfügung steht.

Aufruf zu Hackerangriffen. Also etwas, das täglich tausendfach im Netz passiert. Ein Thema, mit dem man praktisch jedes technikaffine Forum lahmlegen könnte. Und das wohl auch in schöner Regelmäßigkeit tut. Das ist schon schlimm genug, aber bei der Piratenpartei handelt es sich nicht um einen x-beliebigen Webmaster, der sich vielleicht gerade mal auf Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Haftungsprivilegien nach dem Telekommunikationsgesetz berufen kann.

Die Piratenpartei genießt noch etwa mehr Schutz, nämlich den des Artikel. 21 Grundgesetz. Die juristischen Kommentare zu dieser Vorschrift sind ellenlang. Wer sie nachliest, wird feststellen, die Parteien sind nach einhelliger Auffassung der “Transmissionsriemen” für die politische Willensbildung. Er wird weiter zur Kenntnis nehmen, dass die Parteien deswegen vor Repression durch die Exekutive nach Möglichkeit zu verschonen sind. Weil das der Demokratie schadet.

Damit sind wir genau bei dem Punkt, auf den es so oft hinausläuft. Kann die Abschaltung der Server der Piratenpartei, noch dazu wenige Tage vor der Wahl eines Landesparlaments, verhältnismäßig sein? Können von Dritten auf einer von der Piratenpartei eingestellte Dokumente die faktische Lähmung dieses demokratischen Organs rechtfertigen?

Hätte es nicht ausgereicht, die Spitze der Piratenpartei oder die verantwortlichen Admins als Zeugen zu befragen? Immerhin hat der Bundesvorstand der Piratenpartei auch heute sofort erklärt, er werde im Rahmen seiner gesetzlichen Pflichten mit den Ermittlungsbehörden kooperieren. Dem Vernehmen nach sind sogar Passworte herausgegeben worden. Das spricht dafür, dass es durchaus mildere Mittel gegeben hätte, dem französischen Ermittlungsersuchen zu entsprechen.

Die Art und Weise, wie die Staatsanwaltschaft Darmstadt hier vorgegangen ist, wird noch eingehend zu hinterfragen sein. Die Ausrede, wir mussten doch wegen der Franzosen, wird jedenfalls nicht ziehen.

Update: Spiegel online berichtet, möglicherweise sei über die frei zugänglichen Kollaborationsseiten – ähnlich wie Google Docs – der Piratenpartei eine Cyberattacke auf französische Atomkraftwerke geplant worden. Vor diesem Hintergrund wird die Durchsuchung für mich noch unverständlicher. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Verantwortlichen der Piratenpartei bei so einem Verdacht nicht mit den Ermittlungsbehörden kooperiert hätten. Update zum Update: Zur Qualität der Spiegelmeldung siehe hier.

Das.Geht.Nicht.

Die Computerkriminalität ist im letzten Jahr gestiegen, wenn man der Polizeilichen Kriminalstatistik glauben will. Wörtlich heißt es in dem heute vorgestellten Report:

Die Computerkriminalität ist im Jahr 2010 um 12,6 Prozent auf 84.377 Fälle angestiegen. Dies ist überwiegend auf eine Steigerung der Fallzahlen beim Ausspähen, Abfangen von Daten einschließlich Vorbereitungshandlungen (+32,2 Prozent auf 15.190 Fälle) und beim Computerbetrug (+18,9 Prozent auf 27.292 Fälle) zurückzuführen.

Bei Delikten, die unter Nutzung des Internets begangen werden, hat das Bundesinnenministerium einen Anstieg von 8,1 % ermittelt. Nach einer Berechnung von Spiegel online teilen sich die Internetdelikte wie folgt auf: Betrugsfälle 46 %, Ausspähen und Abfangen von Daten 25 %, Betrug mit Zugangsberechtigungen 13 %. Den Rest bis auf nahezu 100 % entfällt auf Fälschungsdelikte und Computersabotage.

Es bedarf keiner großen Phantasie, dass die weitaus meisten Taten in den überhaupt von der Statistik erfassten Kategorien das virtuelle Äquivalent von Delikten sind, wie sie auch im wirklichen Leben alltäglich sind. Oder will ernsthaft jemand behaupten, mit Hilfe eines Computers bei ebay abzocken ist per se schlimmer als bei Karstadt mopsen?

Auch im Netz haben wir es also vorwiegend mit einfacher bis mittlerer Kriminalität zu tun. Von daher wundert es schon, wenn der Bundesinnenminister auch die Vorstellung der Kriminalstatistik 2011 dazu nutzt, die Werbetrommel für die Vorratsdatenspeicherung zu rühren:

Die nahezu ungebremsten Möglichkeiten, die das Internet eröffnet, schaffen spiegelbildlich auch mehr Anreize und Möglichkeiten zu ihrer missbräuchlichen Nutzung. Es muss alles getan werden, um daraus resultierende Schutzlücken – wie zum Beispiel die derzeit fehlende Mindestspeicherfrist von Kommunikationsverbindungsdaten – so schnell wie möglich zu schließen.

Das. Geht. Nicht.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung klipp und klar gesagt, eine Vorratsdatenspeicherung ist höchstens dann verhältnismäßig, wenn Abruf und Nutzung der Daten auf “schwere Straftaten” beschränkt sind. Man kann munter rumdefinieren oder sich auf den Kopf stellen, aber mit keiner dieser Methoden wird man Klickbetrug, Cybermobbing oder Urheberrechtsdelikte auf die Stufe von Terrorismus und Mord katapultieren.

Deshalb sind die Worte des Innenministers nur ein erneutes Eingeständnis, dass die Politik sich bei ihrem mächtigen Verlangen nach der Vorratsdatenspeicherung nicht mit der Verfassung arrangieren möchte. Sondern dass sie meint, die Verfassung müsse sich nach ihren sicherheitspolitischen Wünschen richten.

So eine Grundeinstellung finde ich fast auch ein wenig kriminell.

Links 625

„Es wurde plädiert, als habe der Prozess überhaupt nicht stattgefunden“

Perp Walk

Besonders brutale Taten kann auch Videoüberwachung nicht verhindern

Volkszähler haben keine Lust mehr

Deutsche Banken finanzieren Gaddafis Streubomben

Berliner Studenten: Jeder Dritte kann sich Prostitution als Job vorstellen

„20 Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion gibt es noch immer keine demokratischen Wahlen, im Grunde wird gewählt wie in Kasachstan, der Elfenbeinküste oder beim Weissrussen Alexander Lukaschenko“