Die Brille

So schnell kann es gehen. Mein Mandant fand sich auf der Anklagebank wieder, weil mit einem Auto, das auf seine Firma zugelassen ist, ein Verkehrsdelikt begangen worden sein soll.

Schon früh hatte ich dezent darauf hingewiesen, es sei ja wohl eher unwahrscheinlich, dass der Geschäftsführer einer mittelgroßen Firma ausgerechnet mit einem der Lieferwagen durch die Gegend fährt und nicht mit dem Dienst-Daimler.

Und natürlich, dass die Beschreibung des Fahrers extrem vage ist. Sie passt so ziemlich auf jeden männlichen, weißen Mitteleuropäer mit etwas lichtem, dunkelblonden oder braunem Haar. Mehr konnte die einzige Zeugin nämlich zum Fahrer nicht sagen. Außer, dass er eine Brille trug.

Auch die Richterin fand es nicht sonderlich gut, dass die Staatsanwaltschaft meiner Bitte nicht gefolgt ist, der Zeugin im Vorfeld Vergleichsfotos zu zeigen. Zumal die Zeugin schon gegenüber der Polizei ihre offenkundigen Erinnerungslücken mit ziemlich steilen Behauptungen wettmachte.

Denn es ist immer blöd, wenn nur eine Person auf der Anklagebank sitzt. Mit Ausnahme des Anwalts, der ja allerdings eine Robe trägt. Wie bei dieser Konstellation nicht anders zu erwarten, war sich die Zeugin schon nach einem Blick auf meinem Mandanten sicher, dass er der Fahrer ist. „Ich erinnere mich genau an das Gesicht dieses Menschen“, sagte sie. „Er ist es zu 100 %. Genau so hat er ausgehen.“

Ich hatte der Richterin vor der Verhandlung extra gesagt, mein Mandant werde sich ohne Brille hinsetzen. Und dass die Zeugin die Brille im Gegensatz zu ihrer früheren Aussage von sich aus garantiert nicht erwähnt, wenn sie den Angeklagten ohne sieht.

Der Freispruch ließ keine fünf Minuten auf sich warten.