„Freispruch“ künftig nur noch unter Vorbehalt?

Im deutschen Strafrecht galt bisher der Grundsatz „ne bis in idem“ (Art. 103 Abs. 2 GG). Danach darf niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden. Das hat sich im Dezember 2021 grundlegend geändert. Bei Mord und einigen anderen schweren Delikten wie Kriegsverbrechen ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens nun auch möglich, wenn nach einem rechtskräftigen Freispruch neue Beweismittel auftauchen. Theoretisch kann ein Mordprozess also immer wieder neu aufgerollt werden. Ob diese Regelung mit dem Grundgesetz vereinbar ist, beschäftigt nun das Bundesverfassungsgericht.

Anlass ist der wieder aufgenommene Prozess wegen des Mordes an einer im Jahre 1983 getöteten jungen Frau. Der Verdächtige war freigesprochen worden. Im Jahr 2012 konnten jedoch Spermaspuren im Slip des Opfers gefunden werden, die den nunmehr wieder angeklagten Mann belasten sollen. Aufgrund des neu eingeführten § 362 Nr. 5 StPO wurde der Mann erneut angeklagt und sollte in Untersuchungshaft. Das Bundesverfassungsgericht setzte den Haftbefehl jedoch außer Vollzug, um über die neue Vorschrift zu entscheiden.

Gestern fand die mündliche Verhandlung statt. Hierbei prallten verschiedene Meinungen aufeinander, wie die Legal Tribune Online berichtet. Befürworter der Regelung wiesen darauf hin, dass das Grundgesetz vom Wortlaut her nur eine mehrfache Bestrafung verbietet. Den Freispruch muss man in diese Kategorie also hineindenken – was allerdings über Jahrzehnte ernsthaft nicht angezweifelt wurde. Alles andere würde die Vorschrift ja auch in ihrem wichtigsten Anwendungsfall entwerten.

Ansonsten beriefen sich die Befürworter der Regelung darauf, dass dem Staat zumindest bei krassen Strafsachen nicht auf der Nase herumgetanzt werden darf („funktionierende Strafrechtspflege“). Von „exzeptionell schweren Taten“ war die Rede, auch plane niemand eine routinemäßige Überprüfung rechtmäßiger Freisprüche, aber es gebe einen Anspruch auf „effektive Strafverfolgung“.

Die Gegner des neuen Gesetzes verwiesen darauf, dass ein Freispruch faktisch keine Rechtskraft mehr habe. Dringende Gründe für eine Wiederaufnahme ließen sich schnell konstruieren, sagte etwa Johann Schwenn, der Anwalt des Angeklagten. Die Vorschrift verstoße auch gegen die Unschuldsvermutung, betonte ein anderer Bevollmächtigter. Er wies auch darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht schon früher klargemacht habe, dass es zum Rechtsstaat gehört, auch mutmaßliche Fehlurteile in Kauf zu nehmen.

Interessant war auch der Hinweis, dass es ähnliche Vorschriften schon in der Nazizeit gegeben hat. Damals wurde es ebenfalls ermöglicht, rechtskräftige Freispruche wegen neuer Beweise oder sogar nach einer Strafverschärfung aufzuheben. Auf der Hand liegt auch, dass die nun für Mord eingeführte Vorschrift schrittweise auch auf andere Straftaten ausgedehnt werden könnte, als nächstes wären dann wohl Sexualstrafaten dran.

Das Bundesverfassungsgericht wird wohl in einigen Monaten entscheiden.