Der Fall des bayerischen Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger prägt die Schlagzeilen. Er soll als 16- oder 17-Jähriger Schüler vor 35 Jahren (!) ein volksverhetzendes Flugblatt verfasst und eventuell sogar verteilt haben. Die Justiz hat wohl nie gegen Aiwanger ermittelt. Es gibt also kein Strafurteil gegen ihn. Laut dem Bericht der Süddeutschen Zeitung fand lediglich eine schulinterne Untersuchung statt. Die Süddeutsche Zeitung wird sich in diesem Fall fragen lassen müssen, ob sie nicht unzulässige Verdachtsberichterstattung betreibt. Aiwanger hat schon rechtliche Schritte angekündigt.
Nehmen wir mal an, Oberstufenschüler N. hat im Jahr 1988 im Alter von 17 Jahren einen Mitschüler erschlagen. Selbst wenn er vom Jugendgericht wegen schweren Totschlags bestraft wurde, wäre die Tat aus dem Erziehungsregister gelöscht. Und zwar seit Jahrzehnten. Wäre das Strafverfahren mangels Tatverdachts eingestellt worden oder hätte es gar keines gegeben, wäre die Tat nach 20 Jahren verjährt. Selbst bei einer besonders schweren Straftat wäre also juristisch längst Gras über die Sache gewachsen. So oder so. Der damalige Schüler dürfte sich trotz des Totschlags mit Fug und Recht als unvorbestraft bezeichnen. Schon die bloße Erwähnung der seinerzeitigen Tat oder des Verdachts wäre heute im Gerichtssaal unzulässig.
Diese Maßstäbe kann man zwar nicht 1:1 auf das Presserecht übertragen. Aber wenn’s Staatsanwalt, Richter und Behörden nicht mehr verwenden dürfen, braucht die Presse schon sehr, sehr gute Gründe, wenn für sie etwas anderes gelten soll. Wird Aiwanger von der SZ korrekt behandelt? Ich habe Zweifel.
Hier die wichtigsten Aspekte:
Der „Beschuldigte“ war seinerzeit Jugendlicher. Auch wenn sich über den volksverhetzenden Inhalt des Flugblatts kaum diskutieren lässt, kann es sich um eine Jugendsünde gehandelt haben. Dafür sprechen folgende Umstände: Die Schule soll die Sache rein intern geregelt haben. Mit einem Strafreferat. Was nach dem seinerzeitigen Schulrecht in Bayern eine eher milde Sanktion ist. Überdies hat die SZ keinerlei Beleg dafür, dass Aiwanger jenes Referat geschrieben hat. Aiwanger soll weiterhin zwei Jahre später ganz normal sein Abitur an dem Gymnasium gemacht haben. Ein Strafverfahren gab es nicht. Dabei sind amtliche Ermittlungen für die Presse meist der Aufhänger, der eine Verdachtsberichterstattung erst zulässig macht.
Eine schulinterne Überprüfung steht natürlich auf keiner vergleichbaren Stufe zu Ermittlungen der Polizei. Die SZ kolportiert, die Lehrer hätten seinerzeit eins oder mehrere der Flugblätter in Aiwangers Schultasche gefunden. Das Flugblatt selbst sei auch auf dem Klo aufgetaucht. Das mag so sein, aber das sind doch keine tragfähigen Beweise für Aiwaingers Täterschaft. Außerdem wird Aiwanger angelastet, er habe die Tat angeblich nicht abgestritten. Was wohl bewusst so formuliert ist. Aiwanger hat demnach jedenfalls auch nichts zugegeben. Dass sein Verhalten zu einem Quasi-Geständnis verwandelt wird, lässt sicher nicht nur Strafjuristen die Haare raufen. Stichwort: Schweigerecht.
Recherchiert hat die SZ. Aber hat sie es auch hinreichend sogfältig gemacht? Denn nur dann ist eine Verdachtsberichterstattung zulässig. Das angebliche Flugblatt als solches hat keinerlei Beweiswert gegen Aiwanger. Es existiert wohl, aber was weist Aiwanger als Autor oder Verteiler aus? Die Angaben der damaligen Lehrkräfte helfen da nicht. Für mich stellt sich schon die Frage, welcher Lehrer sich nach 35 Jahren überhaupt noch an Einzelheiten erinnert. Entscheidend dürfte aber sein, dass die SZ den Gesprächspartnern aus Aiwangers früherer Schule Quellenschutz zugesagt hat, da diese – völlig zu recht – juristische Konsequenzen fürchten. Wenn sie aber reden und gleichzeitig anonym bleiben wollen, belegt dies erst mal nur, dass ihnen während der Interviews das Unrecht ihres eigenen Handelns bewusst gewesen ist. Wir reden hier von Geheimnisverrat nach § 353b StGB und gewisse andere Vorschriften aus dem Datenschutzrecht.
Was also ist das hehre Motiv der Informanten, für das sie sogar eigene Straftaten in Kauf nehmen? Ihnen kann es nur darum gehen, dem Politiker Aiwanger zu schaden. Aber was sind Aussagen noch wert, wenn es nach Belastungseifer riecht und der Informant sich ängstlich hinter einer Vertraulichkeitszusage duckt? Eine dürftige Faktenlage, sofern man überhaupt von Fakten reden will. Ich kann mir vorstellen, dass so was einem Gericht ausreicht.
Neben den Aussagen sogenannter Zeugen gibt es aber offensichtlich derzeit keine belastbaren Quellen. Hinzu kommt ja auch, das muss man noch mal klar wiederholen, für Aiwanger grundsätzlich die Unschuldsvermutung streitet. Womöglich ist er schlicht zu Unrecht verdächtigt worden? Außerdem lassen die von der SZ zitierten Angaben noch nicht mal erkennen, wie sicher die Erinnerung der Informanten ist. Diese müssen ja ohnehin steinalt sein. Es fehlt also insgesamt an einem Mindestbestand an sogenannten Beweistatsachen. Genau diese Beweistatsachen fordert die Rechtsprechung aber für eine Verdachtsberichterstattung.
Zuletzt: Auch wenn der SZ-Bericht von Konjunktiven, Unschärfen und Andeutungen sowie vermeintlichem Mitgefühl mit dem Übeltäter trieft, bleibt am Ende eines: die glasklare Vorverurteilung. Ich wäre nicht verwundert, wenn Aiwanger die Süddeutsche Zeitung in Grund und Boden klagt. Der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach hat erst vor wenigen Tagen Millionenstrafen für Rufmord und Vernichtungskampagnen durch die Presse gefordert. Seine Gründe waren äußerst hörenswert, und da war ihm die Causa Aiwanger noch nicht mal bekannt.