Glücksspielreform: Segeln unter falscher Flagge

Kinderpornografie sollte in Deutschland der Türöffner für Internetsperren sein. Doch das Zugangserschwerungsgesetz erwies sich als so heikel für den Rechtsstaat, dass selbst die CDU nun für seine Abschaffung gestimmt hat. Das hindert andere jedoch nicht daran, weiter an der Einführung von Internetsperren zu arbeiten. So planen derzeit die Ministerpräsidenten der Länder Websperren und damit staatliche Zensur. Dabei geht es ihnen noch nicht mal um Kriminalität. Vielmehr sollen Deutsche keine Möglichkeit mehr haben, online bei ausländischen Lotto- und Wettanbietern zu tippen.

Derzeit liegen die Pläne bei der EU in Brüssel. Wie zu hören ist, werden dort kritische Fragen gestellt. Kein Wunder, denn die gesamten Pläne für eine Reform des Glücksspiels sind nach einem neuen Gutachten verfassungs- und europarechtswidrig.

Der Heidelberger Staatsrechtler Prof. Dr. Bernd Grzeszick hat sich im Auftrag des Londoner Wettanbieters Betfair den Entwurf des Glücksspielstaatsvertrages angesehen und kommt – auch abseits des die Öffentlichkeit am meisten interessierenden Komplexes der Websperren – zu einem vernichtenden Ergebnis. Nach seiner Auffassung wird der aktuelle Entwurf, dessen Verabschiedung die Ministerpräsidenten diese Woche auf Oktober verschoben haben, vor dem Europäischen Gerichtshof und den deutschen Gerichten scheitern.

Grzeszick zeigt auf, wie unlogisch und in sich widersprüchlich die geplanten Regelungen gestaltet sind. Das allerdings ist kein Missgeschick, sondern einem Dilemma geschuldet. Nach außen müssen die Ministerpräsidenten der Länder so tun, als wollten sie die Deutschen vor den “Gefahren” des Glücksspiels schützen.  In Wirklichkeit ist ihr vorrangiges Ziel aber, die Milliardenerlöse aus Lotto, Toto und staatlichen Spielbanken für ihre Kassen zu erhalten.

Dieses bestehende Monopol lässt sich aber nur verteidigen, wenn die Gefahren des Glücksspiel bis ins Groteske beschworen werden. Der Europäische Gerichtshof hatte nämlich in einem Grundsatzurteil nicht feststellen können, dass in anderen EU-Ländern durch freies Glücksspiel messbare Not und wahrnehmbares Elend entstehen. Er stellte die Deutschen also vor die Wahl: Glücksspielkontrolle ist nur zulässig, wenn das Risiko für die “Volksgesundheit” nicht nur einseitig bei privatem, sondern konsequent auch bei öffentlichem Glücksspiel bejaht wird. Was dann unter anderem die Folge hatte, dass Hartz-IV-Empfänger möglicherweise keine Lottoscheine mehr abgeben dürfen.

Das permanente Segeln unter falscher Flagge bedingt natürlich auch juristische Verrrenkungen, die das neue Gutachten Punkt für Punkt beleuchtet. Für private Sportwetten sieht der Gesetzentwurf etwa lediglich sieben Konzessionen vor. Dagegen ist der Markt für Geldautomaten und Pferdewetten weiter für eine unbeschränkte Zahl privater Anbieter offen. Und das, obwohl gerade die Geldautomaten in Gaststätten und Spielhallen als besonders suchtgefährlich gelten. Ebenso kann wohl auch kaum jemand erklären, wieso ein Fußball- oder Formel 1 – Tipp mehr Suchtpotenzial bietet als eine Pferdewette.

Der Heidelberger Professor kritisiert zahlreiche weitere Punkte. Dazu gehören die staatlichen Pläne, künftig selbst (wieder) Lotto und Spielbankangebote online anzubieten. Das sei gerade kein geeigneter Schritt, um die angeblich so gefährdeten Deutschen vor Glücksspiel zu schützen.

Europarechtlich hält der Gutachter die Pläne für nicht vereinbar mit der garantierten Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. Auf nationaler Ebene sei die verfassungsrechtlich garantierte Berufsfreiheit nicht nur strapaziert, sondern faktisch außer Kraft gesetzt.

Die geplante weitere Abschottung der Deutschen vom Glücksspiel birgt also auch abseits der geplanten Netzsperren juristische Sprengkraft.

Anzeichen für ein Einlenken der Politik gibt es nicht. Die Ministerpräsidenten, so wird gemunkelt, sollen die Verabschiedung des Glücksspielstaatsvertrages bewusst auf den Oktober verschoben haben. Bis zum Jahresende muss wegen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nämlich eine Neuregelung her. Bei einer möglichst späten Verabschiedung wäre der Zeitdruck in den Länderparlamenten, die alle zustimmen müssen, viel größer. Somit dürften die Chancen steigen, dass Kritiker gar nicht erst gehört und das Gesetz einfach durchgewunken wird.

Das komplette Gutachten von Prof. Dr. Bernd Grzeszick (PDF)