Beweise? Eine Hochrechnung tut’s doch auch

Nach weit über 20 Jahren als Strafverteidiger denke ich manchmal, eigentlich müsstest du alles Absurde mindestens einmal erlebt haben. Dann kommt so eine unscheinbare rote Gerichtsakte daher und belehrt dich eines Besseren. Diesmal war es eine Anklageschrift, dich ich mit zunehmendem Staunen studierte.

Es geht um den Besitz strafbarer Bilder. Wie das üblich ist, machte sich die Polizei an die Auswertung der diversen Datenträger, die beim Beschuldigten beschlagnahmt worden waren. Der zuständige Beamte wurde auf den Festplatten auch fündig. So weit, so alltäglich für mich als Anwalt.

Allerdings stellte der Polizeibeamte seine Tätigkeit ein, nachdem er nach eigenen Angaben 50 Prozent der Datenträger „durchsucht“ hatte. Den Rest ließ er unüberprüft links liegen. Warum der Polizist die Arbeit einstellte, bleibt etwas nebulös. Vielleicht fehlte ihm einfach die Zeit. Immerhin hielt er als Ergebnis fest, dass er auf den ausgewerteten Datenträgern exakt 501 Bilder gefunden hat, deren Besitz nach seiner Meinung strafbar sind.

Interessant ist nun, was der Staatsanwalt mit diesen Informationen gemacht hat. Er beschuldigt meinen Mandanten in der Anklageschrift nicht des Besitzes von 501 Bildern. Vielmehr kommt er im Wege einer Hochrechnung dazu, der Beschuldigte habe 1002 Bilder besessen, und in diesem Umfang erhebt er explizit Anklage.

Bemerkenswert finde ich, dass der Staatsanwalt selbst von einer „Hochrechnung“ spricht – und damit offenbar null Probleme hat. Natürlich ist auch das Strafrecht mitunter Hochrechnungen zugänglich. Krasseste Beispiele sind Drogendelikte. Da ist meist kein Fitzelchen des Stoffs mehr vorhanden, der Umfang der Taten ergibt sich aus Zeugenaussagen nach dem Motto: „Ich war einmal in der Woche dort und habe jeweils vier Gramm gekauft, und das zehneinhalb Monate lang.“

Aber eine Hochrechnung, obwohl das Beweismittel auf dem Tisch liegt? Darauf muss man erst mal kommen. Ein Angeklagter kann sich doch nicht wegen Bildern verteidigen, von denen nicht mal festgestellt ist, dass sie überhaupt existieren. Die Anklage empfinde ich aber auch als Zumutung gegenüber dem Richter. Wie kann ein seriöser Richter seine Pflicht, die Wahrheit zu ermitteln, zur Seite schieben und reine Mutmaßungen zur Grundlage seines Urteils machen?

Als Verteidiger wäre es mir natürlich recht, wenn es bei der Auswertung der Hälfte der Datenträger verbleibt. Aber dann dürfte sich der Tatvorwurf eben nur auf die Bilder erstrecken, die bis dahin gefunden wurden. So muss ich mich für meinen Mandanten leider beschweren. Es wird interessant, ob die Staatsanwaltschaft tatsächlich bei der Meinung bleibt, diese Anklageschrift könne als Grundlage für eine Hauptverhandlung dienen.