Berliner Richter haben Schwarzfahrer satt

Schwarzfahren – Straftat oder Kavaliersdelikt? Berliner Richter stehen jedenfalls vor einem Berg von Verfahren gegen Schwarzfahrer. Bis zu jeder dritte Prozess gegen Erwachsene soll sich in der Hauptstadt um dieses Delikt drehen, bei Jugendlichen jeder Fünfte. Einige Richter wollen jetzt die Notbremse ziehen. Sie fordern nach einem Bericht des Tagesspiegel, Schwarzfahren nur noch als Ordnungswidrigkeit zu ahnden und Hartz-IV-Empfänger kostenlos fahren zu lassen.

Wäre Schwarzfahren kein Fall mehr für die Strafgerichte, würde das nach Auffassung eines Richters “unglaubliche Kräfte freisetzen”. Derzeit seien viele Ressourcen mit der Verfolgung von Ticketsündern gebunden. Das gilt auch für die Gefängnisse. Schon länger ist bekannt, dass in der Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee ein Drittel der Gefangenen wegen Schwarzfahrens einsitzt. Das kostet den Steuerzahler laut Tagesspiegel rund 80 Euro pro Tag.

Mutig finde ich den Vergleich des erwähnten Richters, wonach Schwarzfahren auch nichts anderes ist, als wenn ein Autofahrer sein Auto parkt und keinen Parkschein zieht. Jedenfalls führt das zum Kern der Frage, der schon seit jeher diskutiert wird: Wieso sorgt der Staat für “Abschreckung”, bloß damit Verkehrsbetriebe weitgehend auf Eingangskontrollen in den Bahnhöfen oder sonstige effektive Ticketsysteme verzichten können?

Diese offensichtlich gewollte Quersubvention stellt Juristen seit jeher vor Probleme. Der Straftatbestand selbst sah so was nämlich gar nicht vor. Er heißt  “Erschleichen von Leistungen”. Dass heute jeder Fahrgast einfach so in Busse und Bahnen einsteigen und mitfahren kann, passt schon nicht zum Begriff des Erschleichens. Denn dieser hat mit Tricksen, Tarnen und Täuschen zu tun. Generationen von Richtern haben sich damit beholfen, dieses Erfordernis auszuhebeln. Sie gingen und gehen nach meiner Meinung über die Grenze des Wortlauts hinaus, indem sie postulieren, es genüge für ein Erschleichen auch, wenn sich jemand “den Anschein des Ordnungsgemäßen” gebe.

Man müsste sich eigentlich nur darauf besinnen, dem Gesetz die gewollte Bedeutung zuzugestehen. Schwarzfahren wäre dann nur möglich, wenn jemand funktionierende Kontrollen aktiv umgeht. In Zeiten der “Near Field Communication” müssten das ja auch keine Drehkreuze mehr sein.

Der Ball läge dann im Spielfeld der Verkehrsbetriebe. Und die Justiz hätte mehr Zeit, sich um die wirklich wichtigen Fälle zu kümmern.

Eine Berufung scheidet aus…

Was sind die Beweggründe der Staatsanwaltschaft Mannheim, im Verfahren gegen Jörg Kachelmann Revision einzulegen? Im Gespräch mit Focus online äußert Jura-Professorin Monika Frommel ihre Ansichten. Unter anderem sagt sie:

Eine Berufung scheidet ohnehin aus, weil die Staatsanwaltschaft dann neue Beweise vorlegen müsste.

Diese Erwägung ist, nun ja, etwas neben der Spur. Wenn die Strafkammer am Landgericht wie im Fall Kachelmann in erster Instanz geurteilt hat, gibt es keine Berufung. Das einzig mögliche Rechtsmittel ist die Revision zum Bundesgerichtshof.

Eine Berufung wäre nur möglich, wenn das Amtsgericht gegen Jörg Kachelmann verhandelt hätte. Hat es aber nicht.

Die Äußerung der Juristin offenbart eines der großen Rätsel der Strafprozessordnung. Bei harmloseren Anklagen, die am Amtsgericht verhandelt werden, hat der Angeklagte zwei Rechtsmittel. Die schon erwähnte Berufung, über die dann tatsächlich das Landgericht entscheidet. Und dann die Revision gegen die Berufungsentscheidung des Landgerichts, die am Oberlandesgericht verhandelt wird.

Wer wegen einer schwereren Straftat direkt am Landgericht angeklagt wird, kann dagegen nur in Revision gehen. Die Frage einer Berufung stellt sich im Fall Kachelmann also nicht.

Auch der Hinweis Frommels, wonach eine Berufung zwingend neuer Beweismittel bedarf, ist so nicht richtig. Weder die Staatsanwaltschaft noch der Angeklagte sind gezwungen, neue Beweismittel zu nennen. Die Sache muss bei fristgerecht eingelegter Berufung immer neu verhandelt werden, so weit das Urteil angefochten wurde. Nur bei Bagatelldelikten (Geldstrafe bis 15 Tagessätze) hat das Landgericht die Möglichkeit, die Berufung ohne Hauptverhandlung zu verwerfen.

Ich halte es übrigens für sehr wahrscheinlich, dass der Interviewer nichts verstanden und/oder einiges durcheinander geworfen hat.

Einschreiben ist keine Pflicht

“Haben wir nicht gekriegt.”

Ein Satz, den man durchaus öfter in Behörden hört. Fehlt – aus welchen Gründen auch immer  – ein wichtiges Schreiben in der Akte, sucht man die Schuld ungern bei sich selbst. Vielmehr soll der Bürger büßen. Anträge werden abgelehnt, Leistungen gekürzt. Immerhin, so heißt es dann gerne, hätte der “Kunde” seine Mitteilung ja per Einschreiben schicken können.

Selbst schuld?

So einfach dürfen es sich Ämter aber dann doch nicht machen. Dies hat das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz klargestellt. Ein junger Mann sollte Ausbildungsbeihilfen zurückzahlen. Ein Schreiben, in dem er auf eine Änderung seiner Lebensverhältnisse hinwies, hatte die Agentur für Arbeit angeblich nicht bekommen. Die Behörde hielt es für “grob fahrlässig”, wenn ihre Kunden Briefe mit normaler Post schicken.

Das sehen die Richter anders. Sie weisen darauf hin, einfache Post sei keine unsichere Versendungsform. Was sich unter anderem daraus ergebe, dass die Agentur für Arbeit die weitaus meisten ihrer Bescheide selbst nur per “normalen” Brief versende. Auch wenn ein geringer Bruchteil der Sendungen verschwinde, dürfe der Bürger darauf vertrauen, dass ein Brief normalerweise den Empfänger erreicht.

Hier konnte der Betroffene eine Zeugin aufbieten. Seine Mutter bestätigte, sie habe das Formular ausgefüllt und ordnungsgemäß an die Agentur für Arbeit geschickt. Mehr sei nicht zu verlangen, konstatiert das Landessozialgericht. Es gebe auch keine Pflicht nachzufragen, ob das Schreiben tatsächlich angekommen ist.

Diese Sicht der Dinge ersparte dem Kläger eine Rückforderung von etwas mehr als 1.000 Euro.

Es kann also nie schaden, wenn man einen glaubwürdigen Zeugen hat. Bestätigt dieser, dass der Brief auf den Weg gegangen ist, kann man den Kampf aufnehmen gegen ein lakonisches “Haben wir nicht gekriegt”.

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29. Oktober 2010, L 1 AL 49/09

Drogen: NRW hebt Eigenbedarf an

Kehrtwende: In Nordrhein-Westfalen gelten seit heute wieder höhere Eigenbedarfsgrenzen für Drogen. Beim Besitz von bis zu zehn Gramm Cannabisprodukten und einem halben Gramm harter Drogen (Heroin, Kokain) können die Staatsanwaltschaften von der Strafverfolgung absehen.

Die neue rot-grüne Regierung macht damit eine Verschärfung rückgängig, die Ex-Ministerpräsident Jürgen Rütters (CDU) durchgesetzt hatte. Er reduzierte die Eigenbedarfsmenge bei Cannabis auf sechs Gramm, bei harten Drogen strich er sie ganz.

Allerdings bedeuten die neuen Obergrenzen keinen Freibrief. Die Staatsanwaltschaften entscheiden vielmehr nach eigenem Ermessen in jedem Einzelfall, ob es auch bei geringen Mengen zum Eigenbedarf nicht doch zu einer Anklage, einem Strafbefehl oder vielleicht zu einer Einstellung des Verfahrens gegen eine Auflage kommt.

Der Beschuldigte hat somit keinen Rechtsanspruch auf Straflosigkeit.

Bei Jugendlichen soll auch weiterhin jeder Drogenbesitz Folgen haben. Darauf hat Justizminister Thomas Kutschaty hingewiesen. Er will, dass jeder auffällige Jugendliche zumindest ein Aufklärungsseminar besuchen muss.

Hochzeit und Kapital

Wer Dienstleister auch nur teilweise schwarz bezahlt, muss bei eventuellen Problemen Schadensersatzansprüche abschreiben. Darüber hat das Oberlandesgericht Frankfurt nun ein Ehepaar belehrt, das den eigenen Wedding Planer auf 8.250,00 Euro verklagen wollte.

Die Hälfte des Honorars für den Hochzeitsorganisator sollte unter der Hand fließen. Schon aus diesem Grund kann sich das Ehepaar nicht auf die mangelhafte Durchführung seiner Hochzeitsfeier berufen, meint das Oberlandesgericht. Wörtlich:

Dieser Teil der Vereinbarung sollte offenbar der Steuerhinterziehung dienen. Sie ist deshalb gemäß §§ 134, 138 BGB nichtig. Die Nichtigkeit dieser Abrede hat gemäß § 139 BGB die Nichtigkeit des ganzen Vertrages zur Folge.

Hintergrund des Streits war eine Fehlplanung bei der Location. Die stellte sich nämlich als zu klein heraus, so dass 220 von 620 Gästen vor der Feier wieder ausgeladen werden mussten. Hierdurch, so das offenbar geschäftstüchtige Ehepaar, sei ihm ein kapitaler Schaden entstanden. Die ausgeladenen Gäste hätten logischerweise auch kein Geschenk – man rechnete laut Gericht mit “Geld- und Goldgeschenken” – gemacht. Den “Verlust” von 8.250,00 € ermittelten die Kläger, indem sie den “durchschnittlichen Wert” eines Geschenks zu Grunde legten und davon die ersparten Bewirtungskosten abzogen.

Aber auch mit dieser Rechnung wollte sich das Oberlandesgericht Frankfurt nicht näher befassen:

Der Zweck einer Hochzeitsfeier ist aber nicht darauf gerichtet, wie bei einer gewerblichen Veranstaltung Gewinne zu erzielen. Die vom Antragsgegner übernommene Leistungspflicht hatte nicht auch zum Inhalt, dem Antragsteller mittelbar zu einem Gewinn in Form von Geld- und Goldgeschenken zu verhelfen. Der geltend gemachte „entgangene Gewinn“ aus der Nichtdurchführung der Hochzeitsveranstaltung durch den Antragsgegner liegt deshalb bei wertender Betrachtung außerhalb des Schutzbereiches der übernommenen Vertragspflicht.

Dem Ehepaar wurde die Prozesskostenhilfe für die beabsichtigte Klage mangels Erfolgsaussicht versagt. Ansonsten hätte das Gericht wahrscheinlich noch gefragt, ob der durch 400 anwesende Hochzeitsgäste erzielte Gewinn noch als “Vermögenswert” zur Verfügung steht. Das wäre sicher auch eine nette Diskussion geworden.

OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 16. Mai 2011, Aktenzeichen 19 W 29/11

Rollator Bande

Vor drei Tagen war eine 83-Jährige aus Lüneburg noch guter Dinge. Wie immer schloss sie ihren Rollator an einem Eisenring fest, bevor sie in ihre Wohnung ging. Den Schutz der Nacht nutzen unbekannte Täter dann, den Rollator zu entwenden und dem Gefährt Gewalt anzutun.

110531a

Lüneburg: Sinnlose Gewalt gegen einen Rollator (Bild: Polizei)

Die Seniorin fand ihre Gehhilfe erst am nächsten Abend in einem bedauerlichen Zustand wieder. Die Täter hatten alle vier Räder des Rollators abgebaut, die Bremsseile durchschnitten und das Ablagefach mitgenommen.

Der Gehwagen ist so nicht benutzbar. Die Seniorin muss nun mit einem alten Rollator vorlieb nehmen, wenn sie nicht noch ein preisgünstiges Topmodell bei Lidl ergattert.

Die Polizei ermittelt. Vielleicht sollte sie auch prüfen, ob es sich um reisende Täter handelt. Jedenfalls wurde schon am nächsten Tag einer 64-Jährigen in Weimar ebenfalls der Rollator gestohlen

Unnötige Dinge (47): Krefelder Massengentest

Die Krefelder Polizei hat in einem Mordfall auf ihre “Profiler” gehört – und sich tüchtig verrannt. Bis zu 26.000 Krefelder Männer zwischen 18 und 31 Jahren passten theoretisch in das anhand von Tatspuren (und womöglich viel Intuition) aufgestellte Raster der Ermittler. 1.500 Männer waren bereits zum “freiwilligen” Gentest geladen; die allermeisten haben eine DNA-Probe abgegeben. Jetzt stellt sich heraus: Es war wahrscheinlich gar kein von unbekannten jungen Männern begangener Raub-, sondern ein Auftragsmord.

Fündig geworden ist die Kripo nun im engeren Umfeld der Getöteten. Ihre Alleinerbin soll, berichtet die Lokalpresse, mit ihrem Ehemann einen 29-jährigen Bordellbetreiber aus Mönchengladbach zu dem Mord angestiftet haben. Auf die Spur kamen die Ermittler dem mutmaßlichen Täter, weil dieser ein bei dem Opfer entwendetes teures Handy eingeschaltet haben soll. Laut Express hat es unter seinem Sofa geklingelt, als die hereinstürmenden Polizeibeamten die Nummer wählten.

Letztlich war es also die Dummheit des Verdächtigen, welche die Polizei auf seine Spur brachte. Der komplette DNA-Massentest war nicht mehr als Stochern im Nebel. Erfolgsaussicht gleich Null. Darüber kann man natürlich lächelnd hinwegsehen. Aber nur, wenn man unterschlägt, dass hiermit ein schwerer Eingriff in die Privatsphäre jedes Vorgeladenen verbunden war.

Überdies hat die Polizei in ihrer Selbstgewissheit auch die Grenzen der “Freiwilligkeit” ausgetestet. Personen, die den Test verweigerten, wurden “Hausbesuche” angekündigt. Der Leiter der Mordkommission verstieg sich sogar zu der Aussage:

Wenn man auf den Rechtsstaat und unser Wort vertraut, dass diese Untersuchung nur für diesen Einzelfall benutzt wird, hätte nur der Täter einen Grund die Speichelprobe zu verweigern! 

Ich habe bereits hier geschrieben, was ich von dieser Äußerung halte. Immerhin hat die Krefelder Polizei die Größe, in ihrer Pressemitteilung den DNA-Massentest zu erwähnen. Sie erklärt dann lapidar, die Ermittlungen hätten eine “dramatische Wende” genommen.

Dramatisch, sicher. Aber auch peinlich, was das Wundermittel Gentest angeht.

Der Zweifelsgrundsatz ist käuflich

Der Prozess war irrsinnig lang und quälend. Nun hat das Landgericht Mannheim heute festgestellt, was andere schon vor dem ersten Verhandlungstag wussten: Jörg Kachelmann ist unschuldig, eine Vergewaltigung kann ihm nicht nachgewiesen werden. Diesen Befund brachten schon lange vorher die dem Landgericht vorgesetzten Juristen am Oberlandesgericht Karlsruhe in wenigen, glasklaren Absätzen aufs Papier – als sie Kachelmann im Juli 2010 nach mehr als vier Monaten aus der Untersuchungshaft entließen. 

Nun stellt sich die Frage, wozu es 44 Hauptverhandlungstage dauern musste um darauf zu kommen, dass bei uns der Grundsatz gilt: Bei einem Mangel an Beweisen lassen wir lieber mögliche Verbrechen ungesühnt, als auch nur einen Unschuldigen “aus dem Bauch heraus” zu verurteilen. Der Grundsatz Im Zweifel für den Angeklagten ist ein eherner Sockel des Rechtsstaates. Das Landgericht Mannheim hat, wenn auch mit offenkundigem Widerwillen, letztlich doch nicht zur Spitzhacke gegriffen, um dieses Fundament abzutragen. Das ist den Richtern erst einmal anzurechnen. Vielleicht, ja hoffentlich haben sie sich auch etwas davor gesorgt, später in Gesellschaft von Alice Schwarzer genannt zu werden, der derzeit lautesten Propagandistin von Justizwillkür im Dienst des gesunden Volksempfindens.

Dennoch ist viel schief gelaufen in diesem Prozess. Die Beweisaufnahme begann mit langwierigen Vernehmungen von Zeugen, die nichts dazu sagen konnten, was sich in der angeblichen Tatnacht konkret ereignet hat. Es war die Parade der Ex-Freundinnen Kachelmanns, von Polizisten und der Eltern des mutmaßlichen Opfers. Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, wieso ein Gericht erst mal endlos am Vorhang zieht, ohne sich zu vergewissern, ob überhaupt Hauptdarsteller zu einer Aufführung auf der Bühne verpflichtet sind.

Kachelmanns erster Anwalt Reinhard Birkenstock hat gegen diese Präludien gewettert, und das zu recht. Das Landgericht entschied sich dennoch für die Groteske. Durch diese unübliche, aberwitzige  Prozessplanung (hat so eine Kammer nur einen “Kunden”?) zogen die Richter das Verfahren nicht nur in die Länge. Sie stellten auch die Bottiche für den Schlamm bereit, den die Ex-Geliebten Kachelmanns dann teuer an begierige Medien verkauften.

Auch sonst war das Gericht offenbar geneigt, jedes Sandkorn lieber drei Mal umzudrehen, als sich die Chance auf eine Verurteilung Kachelmanns entgehen zu lassen. Selbst die von der Verteidigung aufgebotenen Gutachter waren nicht so zahlreich, um so einen Prozessmarathon zu rechtfertigen. Das Gericht dürfte sich lange vor der Erkenntnis gedrückt haben, welche der Strafsenat am Oberlandesgericht schon in seiner Freilassungsentscheidung für Kachelmann recht deutlich formulierte – dass die Beweise und Indizien am Ende nicht reichen werden.

Es gehört aber auch zu den Aufgaben eines Gerichts, rechtzeitig auf die Frage zu antworten, ob nach menschlichem Ermessen noch Fakten auftauchen, die den Zweifelsgrundsatz in den Hintergrund drängen. Das Gericht darf nicht darauf warten, dass sich zur Überraschung aller herausstellt, man hat das falsche Gemüsemesser auf DNA untersucht. Oder dass kurz nach der Mittagspause ein Überraschungszeuge hereinstürmt und verkündet, er habe auf dem Obstbaum vor dem Haus gespannt und alles durchs Fenster mit angesehen.

Die Spannung, die über dem Urteilsspruch heute lag, belegt auch einen weiteren Fehler der Mannheimer Richter. Sie haben sich während des gesamten Verfahrens nicht in die Karten schauen lassen. Kein Piep dazu, wie das Gericht die Sach- und Rechtslage momentan würdigt. Das ist eine Prozessführung von gestern. Sie sorgt zwangsläufig dazu, dass sich Ankläger und Verteidigung gleichermaßen in der Defensive fühlen. Ein Gericht, das mit offenen Karten spielt und mit den Parteien erörtert, ob dieser oder jener Beweisvorschlag (momentan) Sinn macht, beschleunigt nicht nur das Verfahren. Es sorgt auch dafür, dass sein am Ende verkündetes Urteil eine Seite nicht wie ein Keulenschlag trifft.

Die traurigste Figur im Fall Kachelmann machten die emsigen Mannheimer Staatsanwälte. Sie sahen in Kachelmann von Anfang an den großen Fisch, der in der Provinz nur alle Jubeljahre anbeißt. Diese Beute galt es nicht zumindest vorläufig am Leben zu halten, sie musste frühzeitig filetiert werden. Mit bloßer Ahnungslosigkeit und Unfähigkeit ist insbesondere die Pressearbeit der Staatsanwaltschaft nicht zu erklären. Zu offensichtlich wurde darauf gepocht, das mutmaßliche Opfer sei glaubwürdig. Zu emsig wurde versucht, die schon früh nachgewiesenen Lügen der angeblich Geschädigten zu bagatellisieren. Auch dass man es anscheinend als Frage der Ehre empfand, Kachelmann in U-Haft zu lassen, spricht nicht für diese Zweigstelle der (so die beliebte Selbstanpreisung von Staatsanwälten) objektivsten Behörde der Welt. Ebenso wie der Umstand, dass die unglücklichen Gestalten von der Staatsanwaltschaft es sogar schafften, in ihren Plädoyers entlastende Umstände einfach zu verschweigen.

Jörg Kachelmann hatte neben seinen unterschiedlich temperierten, aber letztlich ja erfolgreichen Verteidigern einen großen Vorteil. Er konnte jene Sachverständige bezahlen, über deren fast einstimmiges Ergebnis sich am Ende auch die Strafkammer nicht hinwegzusetzen traute. Dass es nämlich keine forensischen Belege für die Tat gibt, zum Beispiel verwertbare DNA oder eindeutige Verletzungen. Und dass es gute Gründe gibt, dem mutmaßlichen Opfer nicht zu glauben.

Ein Angeklagter ohne dicke Geldbörse für Sachverständige (und natürlich Anwälte), das ist leider zu konstatieren, hätte sich wahrscheinlich ein ungünstigeres Urteil als Kachelmann abgeholt – und das auch noch viel schneller. Der Zweifelsgrundsatz ist käuflich.

Darüber kann man sich durchaus sorgen.

Lichtanschlag vereitelt

Mit einem Projektor erzeugte gestern abend ein Unbekannter einen Schriftzug an der Fassade des Bundeskanzleramtes in Berlin. Bundespolizisten bemerkten gegen 22 Uhr Worte an dem Gebäude, welche, so die Polizei, die Atompolitik thematisierten. Die Bundespolizisten alarmierten ihre Kollegen von der Berliner Polizei.

Die Beamten der Berliner Polizei stellten fest, dass die Projektion aus einem Zimmer in einem Hotel an der Ella-Trebe-Straße kam. Sie ließen das Zimmer durch Mitarbeiter öffnen und beschlagnahmten einen Beamer sowie ein Objektiv. Personen befanden sich nicht in dem Zimmer.

Die Ermittlungen dauern an.

Links 632

„Das Netz ist schließlich nur ein Spiegel der Gesellschaft“

Bundestag sperrt Lobbyisten die Hausausweise

Sachsen zahlt Schadensersatz für LKA-Razzia in Dresden

Lehraufträge für Mitarbeiter der Bank

„Die Gerichte dienen der Aufrechterhaltung staatlicher Ordnung“

Bochumer Polizistin erschießt sich im Büro

Singapurs Justiz kritisiert – sechs Monate Haft

„Even Your ‚Friends Only‘ Facebook Material Can Be Used in Court“

A million dollars will fit inside a microwave oven

Sparsam bei der Technik

Zerstochene Reifen sind eine ärgerliche Sache. Sicher auch für Leute, die auf dem Wagenheck den Aufkleber “Eure Armut kotzt mich an” spazieren fahren. Nun ja, nach einigen Vorfällen dieser Art griffen die Betroffenen, die ihren Wohlstand so offen demonstrierten, zur Selbsthilfe. Sie knibbelten nicht den Aufkleber ab, sondern  installierten eine Videokamera, welche die Wohnstraße überwachte.

Ein Ergebnis stellte sich auch prompt ein. Und zwar in Form einer wmv-Datei, welche die Geschädigten stolz zur Polizeiwache trugen. Der Beamte schrieb in die Anzeige, auf dem Band sei eindeutig der Nachbar Herr N. zu sehen.

Vermutlich meinte er, “nach Angaben der Anzeigenerstatter ist eindeutig Herr. N. zu erkennen”. Das in der Nacht aufgenommene Video selbst zeigt nämlich nur etwas, was schemenmäßig als Auto zu erkennen ist. Und eine verwaschene, dunkel gekleidete Figur. Diese Person geht zwar zu den beiden Vorderreifen und drückt etwas gegen die Pneus. Aber in keinem Augenblick ist das Gesicht zu sehen. Nicht mal der Haarschnitt ist auszumachen.

Ich kann es deshalb gut nachvollziehen, wenn Herr N., mein Mandant, ziemlich sauer über den Vorwurf ist. Er räumt gerne ein, mit den Betreffenden nicht das beste Verhältnis zu haben. Aber so gehe es noch einigen anderen in der Umgebung. Der Aufkleber, so Herr N. sei für die herzliche Abneigung noch der geringste Anlass. Trotzdem seien solche Aktionen nun gar nicht seine Sache.

Ob Herr N. es war oder die Nachbarn nur gerne möchten, dass er es war, werden wir wohl nie erfahren. Ich wage die Prognose: Bei so mickriger Qualität wird es auch nichts bringen, das Video – auf Kosten des Steuerzahlers – aufbereiten zu lassen. Wenn man nicht ohnehin gleich ein Verwertungsverbot annimmt, weil die heimliche Beobachtung des öffentlichen Raums verboten ist. (Was den Anzeigenerstattern auch noch eine Anzeige beim Landesdatenschutzbeauftragten einbringen könnte.)

Aus den Metadaten der Aufnahme habe ich aber mal ermittelt, was für eine Webcam im Einsatz war. Ein Billigmodell für 15 Euro; so was war neulich bei real im Angebot. Ich weiß nicht, inwieweit Wohlstand und Geiz in der betreffenden Familie korrelieren. Im konkreten Fall wurde aber eindeutig am falschen Ende gespart.