NOTFALL

Nächtliche Anrufe gehören zu meinen Favoriten. Wenn eine raue Stimme fragt: „Können Sie helfen?“ „Jetzt, sofort?“ „Gibt es da ein Problem?“ „Es ist 2.37 Uhr. Ehrlich gesagt, ich müsste aus dem Bett krabbeln.“ „Es ist aber eilig.“ „Ja, dann, was soll ich für Sie tun?“ „Bitte kommen Sie in die X-Straße. Alles weitere dort.“

Ich mache in solchen Situationen gewöhnlich deutlich, dass ich bei meiner Ankunft ungern Sätze höre wie: „Ich bin über das Sozialamt rechtsschutzversichert.“ Diese Stimme klang aber so, dass mir allein der Hinweis deplatziert erschien.

Ich kam an die X-Straße, drückte auf einen goldenen Klingelknopf und traf auf eine illustre Runde gesetzter Herren, die Zigarren im Mund hatten, Karten in der Hand und Gläser auf dem Tisch. Ich benutze ungern Klischees, aber in der Ecke des großen Raumes stand ein Billardtisch. Habe ich erwähnt, dass offensichtlich niemand in diesem Raum mit Nachnamen Müller hieß?

„Unser Anwalt ist im Urlaub“, eröffnete mein Empfangskomitee. „Deshalb haben wir uns an Sie gewandt.“ Er nickte in Richtung eines unscheinbaren älteren Herrn der angestrengt auf sein Blatt starrte. Ich mahnte mich innerlich zur Vorsicht. Im Strafrecht ist der Grat zwischen Beratung und Beihilfe mitunter nur Bewertungssache.

Ich würde mich drücken bei Fragen wie: Welches südamerikanische Land liefert nicht nach Deutschland aus? Haben Sie die Möglichkeit, einen größeren Lotteriegewinn für uns zu verwalten?

„Unser Papa“, erklärte das Empfangskomitee weiter, „hat heute eine Ladung zum Gericht erhalten.“ Mir war klar, dass dies in gewissen Kreisen für eine mittlere Panik taugt. „Sie müssen das abwenden.“ Hörte ich da sogar eine größere Panik? Lag die Betonung auf müssen und was bedeutete dies im Falle eines Misserfolgs?

Ich sah mir die Ladung an und versprach, alles zu unternehmen, damit mein neuer Mandant nicht vor Gericht erscheinen muss. Die Runde war sichtlich beeindruckt, als ich erklärte, der Fall sei lösbar, ohne dass Papa unfreiwillig einen Fuß vor die Tür, geschweige denn vor einen Richter setzen muss.

Ich tat also mein Bestes, um den Ermittlungsrichter davon zu überzeugen, dass er meinen Mandanten nicht dazu vernehmen muss, wer rund sechs Wochen zuvor mit einem auf ihn zugelassenen Alfa Romeo außerorts die höchstzulässige Geschwindigkeit um 23 Stundenkilometer überschritten hat.

Schon am späten Vormittag konnte ich dem Kunden Vollzug melden: Sache erledigt, Verfahren eingestellt. Neben dem ansehnlichen Pauschalhonorar beflügelt mich die leise Hoffnung, dass in einer stattlichen Zahl Samsung-Handies jetzt meine Mobilfunknummer gespeichert sein könnte. Falls einer aus der Familie mal falsch parkt.