Wenn Menschenrechte nicht gefallen

Artikel 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention klingt vielversprechend:

Die Hohen Vertragschließenden Teile sichern allen ihrer Jurisdiktion unterstehenden Personen die in Abschnitt I dieser Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten zu.

Allerdings kann man sich hierzulande nicht unbedingt auf diese Garantie verlassen – wenn deutschen Richtern das Ergebnis nicht gefällt. Das ist zweifellos bei der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Sicherungsverwahrung der Fall. Hier haben die deutschen Gerichte eine volle Breitseite aus Straßburg erhalten.

Ein Betroffener hatte in Deutschland bis ganz nach oben geklagt. Er wendete sich gegen die – nachträglich durch Gesetz eingeführte – Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung über die bis dahin geltende Höchstgrenze von zehn Jahren hinaus. Alle Gerichte, auch das Bundesverfassungsgericht, bügelten ihn ab. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab ihm recht. Die Sicherungsverwahrung sei nichts anderes als eine Strafe. Strafen dürften nicht nachträglich verschärft werden.

Gegen die Entscheidung legte die Bundesrepublik Rechtsmittel ein – und verlor. Als das Urteil im Mai 2010 rechtskräftig wurde, kam der Antragsteller sofort frei. Was aber ist mit den anderen Betroffenen, deren Fall genau gleich gelagert ist? Es soll sich um 100 bis 120 handeln.

An sich gibt es da nicht viel zu diskutieren. Siehe den eingangs zitierten Artikel 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Oder auch Artikel 46.

Das Oberlandesgericht Koblenz lehnt nun dennoch die schnelle Entlassung eines Sicherungsverwahrten ab, obwohl sein Fall genau so gelagert ist. Dass die Voraussetzungen des Straßburger Urteils auch hier gelten, wird in der bislang vorliegenden Pressemitteilung ausdrücklich eingeräumt.

Allerdings drücken sich die Koblenzer Richter mit folgenden Argumenten:

Urteile des EGMR hätten jedoch keine Gesetzeskraft. Sie wirkten nicht unmittelbar in die nationale Rechtsordnung hinein und könnten damit eine konventionskonforme innerstaatliche Rechtslage nicht erzeugen. Die Gerichte als Träger der rechtsprechenden Gewalt hätten die Europäische Menschenrechtskonvention in der Auslegung durch den EGMR lediglich im Wege der Gesetzesauslegung zu beachten.

Das ist nur bedingt richtig. Deutsche Gerichte müssen, so das Bundesverfassungsgericht, die Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stets berücksichtigen und in ihren Entscheidungen dafür sorgen, dass die aus Straßburg kommenden Grundsätze umgesetzt werden.

Bei der Sicherungsverwahrung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte klipp und klar die nachträgliche Verlängerung für unwirksam erklärt. Mit der an sich logischen Folge, dass die unwirksame Gesetzesänderung eben nicht mehr Entscheidungsgrundlage sein kann.

Die Richter am Koblenzer Oberlandesgericht finden aber gerade hier einen Ansatzpunkt. Im formal noch gültigen deutschen Gesetz, so argumentieren sie, stehe die Verlängerung ja noch drin. Dann heben sie unschuldig die Hände und verweisen darauf, der Wortlaut des Gesetzes hindere sie daran, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Menschenrechtsverletzung abzustellen. So eine „Auslegung“ sei nämlich nicht mehr vom Wortlaut des Gesetzes umfasst. Erst müsse der Gesetzgeber tätig werden, dann könne man auch was für den Betroffenen tun.

Als Anwalt weiß ich, wie gut Richter den Wortlaut eines Gesetzes kneten und auch mal ins Gegenteil verkehren können. Ohne dabei rot zu werden. Dass ihnen diese Fähigkeit ausgerechnet abhanden kommt, wenn es darum geht, offensichtliche und andauernde Menschenrechtsverletzungen – wir reden hier über so was wie Freiheitsberaubung – zu beenden, empfinde ich offen gesagt als abstoßend.