Gepflogenheiten

Es gehört zu den Gepflogenheiten im Strafprozess, dass man Menschen ausreden lässt. Zumindest wenn der Staatsanwalt oder der Verteidiger ihre Plädoyers halten. Und, natürlich, wenn der Richter sein Urteil verkündet.

Umso erstaunter war ich heute, als mir der Richter während meines „Schlussvortrags“ ins Wort fiel. Das geschah freundlich, aber bestimmt. Ich hatte gerade ausgeführt, dass ich den Strafvorschlag des Staatsanwalts für überzogen halte.

Der Staatsanwalt hatte ein Jahr Gefängnis verlangt. Ich wies darauf hin, dass die Höchststrafe für das fragliche Delikt zwei Jahre beträgt. Den Strafrahmen da mal bis zu 50 % auszureizen, ist schon ganz beachtlich. Zumal es nicht gerade um einen schweren Fall ging, und vorbestraft ist der Angeklagte auch nicht.

„… bis fünf Jahre“, sagte der Richter. „Die Höchststrafe ist fünf Jahre. Habe ich gestern extra noch nachgelesen.“ Na ja, mir trotzdem schnell klar, woran es lag. Der Richter hatte offensichtlich nur den Absatz 1 des betreffenden Paragrafen gelesen.

Diese Vorschrift gibt tatsächlich bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe her. Allerdings steht etwas weiter hinten, im vierten Absatz, noch ein Tatbestand. Und um den ging es eigentlich.

Kurze Diskussion, etwas längeres Blättern im Gesetz. Einigkeit, dass die Fahnenstange tatsächlich nur bis zu zwei Jahren reicht. Aber gut, dass wir drüber gesprochen haben. Einen überflüssigeren Grund für eine Berufung oder Revision hätte es ja wohl auch kaum gegeben.

Werbung: „Alles, was Unrecht ist“ – das Buch zum Blog. Jetzt im Buchladen oder als E-Book.