Die einen scherzen über ein „Konjunkturpaket für Gerichtsvollzieher“, die anderen fürchten ernsthafte Konsequenzen für ihre Tätigkeit als Anwalt. Letzten Donnerstag habe ich ein Urteil des Anwaltsgerichts Düsseldorf vorgestellt, das ein wichtiges Instrument im Arbeitsalltag eines Anwalts möglicherweise hinfällig macht: die (vereinfachte) Zustellung von Anwalt zu Anwalt.
Rechtsanwalt Christian Franz aus Düsseldorf hat die Entscheidung mit einer Selbstanzeige herbeigeführt. In einem Beitrag für das law blog erklärt er seine Motive und den Hintergrund.
Von Christian Franz, LL.M.
Das Urteil des Anwaltsgerichts Düsseldorf zur fehlenden Berufspflicht zur Mitwirkung bei Zustellungen von Anwalt zu Anwalt geht auf meine „Selbstanzeige“ nach § 123 BRAO zurück, um mich vom Vorwurf einer Berufsrechtspflichtverletzung zu reinigen (so heißt das tatsächlich). Und so bin ich nun frisch geputzt, aber auch ein bisschen schlauer – und mit mir der Rest jedenfalls des Teils der Anwaltschaft, der regelmäßig mit einstweiligen Verfügungen zu tun hat.
Wie es in den Kommentaren zum Beitrag von Herrn Kollegen Vetter schon heißt: „beschissene Situation“ ist noch euphemistisch ausgedrückt. Im konkreten Fall musste binnen weniger Stunden eine Entscheidung getroffen werden, und in welche Richtung man auch blickte: überall Elend. Entweder man bereitete einem Kollegen ein massives Problem – oder seinem eigenen Mandanten, der bei der Verweigerung der erforderlichen aktiven und willentlichen Mitwirkung (bloß in die Hand nehmen reicht nicht) die Aussicht hatte, einer belastenden Unterlassungsverpflichtung zu entgehen und nebenbei noch einen hoch vierstelligen Betrag zu sparen.
Ich habe mich nach sehr sorgfältiger Prüfung gegen die Mitwirkung, also für den Mandanten und gegen die Kollegialität entschieden. Das ist mir nicht leicht gefallen, war aber – insbesondere auch in der Retrospektive – die richtige Entscheidung. Und ich bin ein wenig stolz darauf, binnen dreier Stunden an einem Freitag Nachmittag „entdeckt“ zu haben, was einige Gerichte seit Anfang der 90er Jahre übersehen haben. Denn es kann keinen vernünftigen Zweifel daran geben, dass das Urteil mit Blick auf die fehlende Satzungskompetenz richtig ist.
Das bedeutet aber nicht, dass die Rechtslage auch befriedigend wäre – im Gegenteil.
Wir sind im gewerblichen Rechtsschutz tätig und erleben die Schwierigkeiten bei der Zustellung mit schöner Regelmäßigkeit auch in umgekehrter Richtung. Das ist allerdings ein Problem, das sich nicht auf das Berufsrecht auslagern lässt, sondern (endlich) prozessrechtlich anzugehen wäre. Im Moment ist es so, dass selbst eine Zugangsvereitelung (Klingelschild abmontieren o.ä.) den zustellenden Gläubiger wegen Fristversäumnis in die Bredouille bringt (das ist eine Besonderheit der Vollziehungszustellung). Es ist dringend geboten, die wirksame Vollziehung an einen objektiven Akt zu knüpfen, der außerhalb der Einflusssphäre des Schuldners liegt, also etwa die (bloße) Beauftragung eines Gerichtsvollziehers mit der Zustellung.
Aber das Urteil ist auch aus anderen Gründen richtig, nicht nur wegen der von mir „entdeckten“ fehlenden Satzungskompetenz: das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach und klipp und klar zum Ausdruck gebracht, dass selbst gesetztes Berufsrecht keine Pflicht begründen kann, gegen die Interessen des eigenen Mandanten zu handeln, wenn eine alternative Handlung zugunsten des Mandanten prozessual zulässig ist, zum Beispiel hier. Und eine prozessuale Pflicht zur Mitwirkung bei Zustellungen gibt es nun einmal nicht.
Die Auswirkungen auf die Praxis werden allerdings trotzdem gering bleiben. Einerseits, weil die Mitwirkung (auch) bei einer Vollziehungszustellung von Anwalt zu Anwalt oft im Interesse des Mandanten liegen wird, wenn nämlich grundsätzlich noch die Zeit für eine Zustellung per Gerichtsvollzieher bliebe. Andererseits, weil sich (hoffentlich spätestens jetzt) herumsprechen wird, dass die verzögerte Absetzung von Urteilen durch das Gericht in Eilsachen den Gläubigeranwalt gar nicht unter Druck setzen kann. Die ZPO hat auch auf diese Situation eine sinnvolle Antwort parat: § 317 Abs. 2 S. 2 ZPO.
Wir beantragen eine solche Ausfertigung ohne Sachverhalt und Gründe, wenn wir eine Woche nach Verkündung noch nichts gehört haben. So bleiben rund drei Wochen Zeit, um die Verfügung zu vollziehen. Und weil wir das Theater kennen, haben wir meist schon mit Beantragung der Verfügung die erforderlichen Ermittlungen (bis zur Einwohnermeldeamtsanfrage nach dem privaten Wohnsitz eines Geschäftsführers oder Vorstands) in die Wege geleitet.
Was den Ausgang des zugrundeliegenden Verfahrens angeht: dem Gegner ist die Puste ausgegangen – die Verfügung war seine Retourkutsche für seine vorherige Inanspruchnahme und so wichtig war es ihm dann wohl doch nicht. Mein Mitleid hält sich in Grenzen – und der Gegner hat aufgehört, mit Fotos von künstlerisch hochwertigen Grabsteinen unseres Mandanten als eigene Leistungsergebnisse zu werben. Insoweit habe ich ein ruhiges Gewissen.
Was den Kollegen angeht, der die Gegenseite vertrat: auch wenn er (siehe oben) handwerkliche Fehler gemacht haben dürfte, kann man nicht übersehen, dass die Rechtsprechung bislang ziemlich blind an der vor-Bastille-Rechtslage festgehalten und eine Mitwirkungspflicht apodiktisch bejaht hat. Da konnte er schon damit rechnen, dass ich das Empfangsbekenntnis vollziehe.
Andererseits: hätte er mich nicht in die Lage gebracht, wegen der offenkundigen Unmöglichkeit der Zustellung durch Gerichtsvollzieher an einem Freitag Nachmittag eine Entscheidung treffen zu müssen, wäre es zu diesem Urteil gar nicht gekommen.
Und so schreibe ich mir auf die Fahnen, § 14 BORA, wie wir ihn kannten, eigenhändig zu Fall gebracht zu haben. Der Mandant ist zufrieden, den gegnerischen Kollegen rettet die Berufshaftpflichtversicherung und wir haben ein bisschen mehr Rechtssicherheit in dem Sumpf, der das Zustellungsrecht ist. Und ich habe für 300,00 € berufsrechtliche Literatur im Haus, die ich hoffentlich nie mehr brauche.
Christian Franz ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Bötcher Dretzki & Franz in Düsseldorf