Ein mieser, kleiner offener Brief der Polizei

Die Polizei in Witten schreibt nicht nur Pressemitteilungen, sondern auch offene Briefe. Zum Beispiel heute, da wendet sich die Behörde an „an einen ganz, ganz miesen Dieb“. Ich gebe das Schreiben gerne im Wortlaut wieder, weil es gerade durch seine offizielle Art so viel sagt über das Arbeitsethos von nicht allen, aber sicherlich vielen Polizeibeamten. Hier also der Brief:

Hallo du kleiner mieser Dieb,

deine Tat, die wir heute auf ungewöhnliche Art und Weise und mit deutlichen Worten an die Presse weiterleiten, dreht einem den Magen um. Am gestrigen 2. Dezember, gegen 13.30 Uhr, hast du einem gehbehinderten Senior, der auf einen Rollator angewiesen ist, über 1.000 Euro geklaut.

Du wirst wissen, dass der knapp 90 Jahre alte Mann gegen 12.20 Uhr seine Rente in der Sparkassenfiliale an der Ruhrstraße abgehoben, in einen Umschlag gepackt und in seine Jacke gesteckt hat. Anschließend wirst du beobachtet haben, wie der Wittener die Apotheke an der Ruhrstraße aufgesucht und seinen Heimweg über die Johannis- und Winkelstraße fortgesetzt hat.

Hier wurde er von dir mehrfach nach dem Weg zum Krankenhaus gefragt. Dabei fuchtelste du mit einem Stadtplan herum und hieltst diesen immer wieder vor das Gesicht des Rentners. Nachdem dir der Senior den Weg beschrieben hatte, warst du plötzlich sehr schnell verschwunden und wir wissen auch warum. Du hast den betagten Mann vermutlich schon in der Sparkasse beobachtet, seine Gutmütigkeit schamlos ausgenutzt, ihn abgelenkt und den Umschlag mit flinken Fingern aus der Jackentasche gezogen.

Weißt du eigentlich, wie traurig der Senior war, als er den Diebstahl seiner Rente bemerkt hat? Weißt du, dass dir sogar die „Ganovenehre“ fehlt? Weißt du eigentlich, was du da gemacht hast und was das gerade in der Weihnachtszeit bedeutet? Du solltest Dich schämen! Wir hoffen nur, dass dir alle Zeitungsredaktionen im Ruhrgebiet, die Boulevardblätter, die örtlichen und überörtlichen Radiostationen sowie die Fernsehsender und Online-Medien immer wieder vor Augen halten, was für ein mieser Typ du bist.

Gleichzeitig werden bestimmt viele Redakteurinnen und Redakteure dem Wittener Kriminalkommissariat 33 (Tel.: 0234 /909-8305) gerne dabei helfen, dich miesen Dieb zu fassen. Übrigens, wir wissen, dass du circa 40 Jahre alt bist, mit osteuropäischem Dialekt sprichst und eine solche Tat vermutlich schon häufiger begangen haben wirst.

Und vielleicht packt dich ja dein Gewissen schon vorher und du schickst wenigstens den Umschlag mit dem Geld an die Wittener Polizei zurück!

Offenbar weiß die Polizei nur, dass der Tatverdächtige den Senior angesprochen und mit einem Stadtplan herumgefuchtelt hat. Und dass dem alten Herrn dann zu einem späteren Zeitpunkt 1.000 Euro fehlten, die er zuvor in der Sparkasse abgehoben hat. Der Rest? Wilde Spekulationen zum Verhalten des Tatverdächtigen („Du wirst beobachtet haben…“). Aber keine tatsächlichen Anhaltspunkte. Natürlich ist es durchaus möglich, dass der Tatverdächtige den Umschlag entwendet hat. Man kann sogar spaßeshalber mal annehmen, ein etwas weniger emotionaler Betrachter des Falls bejaht in einem Anfalls von kriminalistischer Sachlichkeit schulbuchmäßig einen dringenden Tatverdacht.

Steht damit nun fest, dass es tatsächlich so war? Das tut es nie, selbst wenn ein mutmaßlicher Mörder mit blutigen Händen vor einer Leiche angetroffen wird. Die berühmte Unschuldsvermutung wird hier auf sehr anschauliche Weise verzwergt. Für die Wittener Polizei ist der Verdächtige schon heute ein „mieser, kleiner Dieb“, dem nach fachkundiger Bewertung durch die Beamten sogar die „Ganovenehre“ fehlt. Was auch immer Ganovenehre ist. Und welche Rolle auch immer diese in einem rechtsstaatlich geführten Ermittlungsverfahren zu spielen hat.

Stellen wir uns vor, der Tatverdächtige wird gefasst. Welche Behandlung hat er aufgrund dieses Briefes wohl zu erwarten von einer Truppe, die ihn – trotz offenkundig dürftiger Beweislage – schon als überführt ansieht und ihr moralisches („mies“) und juristisches („Dieb“) Urteil selbstgefällig in die Welt posaunt, auf dass es in den sozialen Medien zu Beifallsstürmen führen möge? Dürfen wir hoffen auf eine angemessene Wahrung der Beschuldigtenrechte? Auf Unvoreingenommenheit, sofern der Beschuldigte was zu seiner Entlastung sagen möchte? Respekt vor dem Wunsch, erst mal mit einem Anwalt zu sprechen? Ganz zu schweigen von dem sonstigen Rechtsstaatsgedöns. Träumt weiter, würde ich nach der Lektüre dieses Briefes sagen.

Dennoch darf und sollte man hoffen, dass die letztlich mit den Ermittlungen betrauten Polizisten anders gestrickt sind. Dass sie diesen offenen Brief genau so kleinkariert, überheblich und mies finden wie ich. Dass sie bei ihren weiteren Ermittlungen die Unschuldsvermutung beachten, die Fakten sorgfältig abwägen und dem Staatsanwalt eine nach den Regeln der Kunst aufbereitetes Ermittlungsakte vorlegen. Auf dass dieser sachgerecht über eine eventuelle Anklage entscheiden möge. Und später ein Gericht über die Schuld des Angeklagten.

Ob das der Fall sein wird, werden wir nicht erfahren. Zunächst sehen wir nur das Bild von Polizisten, die nichts auf die Unschuldsvermutung geben. Die Tatverdächtige ohne jede Kenntnis ihrer persönlichen Situation herabwürdigen und, wie ich zumindest finde, sogar beleidigen – was übrigens auch strafbar ist. Selbst wenn man die Sache irgendwie lustig findet, sollte man sich fragen: Wenn ich mal – möglicherweise sogar unberechtigt – in den Verdacht einer Straftat gerate, möchte ich den Fall von solchen Polizisten untersucht sehen?

Antworten gern in die Kommentare.