Ein Urteil mit Fragezeichen

Im Jahr 2016 ist die damals 20-jährige Josefine zu Tode gekommen. Die Umstände ihres Todes beschäftigten zunächst das Landgericht Limburg, wo sich die Eltern und die ältere Schwester verantworten mussten. Nunmehr steht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs an. Den Angeklagten wird vorgeworfen, ihrer schwer kranken Tochter „beim Sterben zugesehen“ zu haben.

Josefine litt seit ihrer Geburt am Down-Syndrom, sie hatte Diabetes und einen Herzklappenfehler. Diese Umstände hinderten Josefine aber – auch aufgrund der Pflege der Eltern – nicht daran, eine Kindertagesstätte und danach eine normale Schule zu besuchen. Da der Vater selbst an Diabetes leidet und die Mutter als pharmazeutisch-technische Assistentin arbeitet und sie eine Schulung zum Umgang mit Diabetes besuchte, kamen die Eltern mit der Erkrankung der Tochter zunächst gut klar.

In den Jahren vor dem Tod zog sich die Familie dann aber immer weiter zurück. Josefine schlief nicht mehr in einem eigenen Zimmer, sondern bei den Eltern im Schlafzimmer. Die Gesundheitswerte stimmten aber bis wenige Wochen vor dem Tod. Zu diesem Zeitpunkt kam es zu Übelkeit, Bauchschmerzen und Erbrechen von Blut. Einen Tag später verschlechterte sich der Zustand so sehr, dass ihre Atmung schwer wurde und sich das Bewusstsein trübte. Der Blutzuckerwert stieg auf 300 Milligramm pro Deziliter, ein durchaus kritischer Wert. Doch niemand kontaktierte einen Arzt oder eine Ärztin, niemand machte einen Notruf.

Irgendwann zeigte das Messgerät für den Blutzuckerwert dann nur noch „high“ an, was einen Wert von 600 Milligramm pro Deziliter oder mehr bedeutet. Erst zu diesem Zeitpunkt wählte der Vater den Notruf. Die Notärztin konnte dann aber nur noch den Tod von Josefine feststellen.

Das Landgericht Limburg verurteilte die Eltern 2019 wegen fahrlässiger Tötung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und sprach die Schwester frei. Die Staatsanwaltschaft hatte auf Totschlag plädiert, aber das Gericht konnte keinen Vorsatz erkennen. Allerdings teilte das Gericht mir, dass drei Richter im Rahmen der Urteilsberatung vom Vorliegen des Vorsatzes ausgegangen waren, zwei Richter in dem Verhalten aber lediglich Fahrlässigkeit sahen. Für eine Verurteilung wegen (vorsätzlichen) Totschlags hätte es einer qualifizierten Mehrheit von vier Stimmen bedurft (siehe die Regelung in §263 StPO).

Letzte Woche fand die Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof statt. Der Senatsvorsitzende wies darauf hin, dass sich das Urteil des Landgerichts wie ein Gutachten mit Pro- und Contra-Argumenten lese. Man könne sich die Frage stellen, ob das Gericht eine unzureichende Beweiswürdigung vorgenommen hätte. Diese Bedenken teilte ein weiterer Richter. Dies könnte jetzt zur Aufhebung des Urteils des Landgerichts führen.

Interessant ist dabei unter anderem, warum sich solche Fehler in dem Urteil finden. Es ist kaum vorstellbar, dass eine Strafkammer bei einem Landgericht die Beweiswürdigung „vergisst“. Es kommt daher zumindest in Betracht, dass das Urteil bewusst so geschrieben wurde, damit die „Chance“ auf eine Aufhebung besteht. Da die Strafkammer damals mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt war, könnte dies auch die Mehrheitsverhältnisse im Rahmen der Urteilsfindung widerspiegeln. Wenn die Schöffen gegen Vorsatz gestimmt hätten, wäre es sich trotzdem Aufgabe der Berufsrichter, die Mehrheitsentscheidung in einen plausiblen Urteilstext zu gießen.

Letztlich bleibt es aber bei Vermutungen, denn das konkrete Abstimmungsverhalten der Richter ist normalerweise geheim und gelangt – normalerweise – nicht an die Öffentlichkeit (und bei einem normalen Gang der Dinge auch nicht an die Richter in die Karlsruhe).

Der Bundesgerichtshof will sein Urteil am 03. Februar verkünden.

Bericht in der Süddeutschen Zeitung

RA Dr. André Bohn