Radarfalle vor dem Ortsausgangsschild

Eine Radarfalle 90 Meter vor dem Ortsausgangsschild – ich nenne so was fies. Womöglich ist es nur Notwehr der Tempomesser, die ja auch Geld in die Kassen spülen müssen. Durch den ständig zunehmenden Kontrolldruck tragen Autofahrer, so mein Eindruck, den Tempolimits immer mehr Rechnung.

Entsprechend sinkender Umsatz muss dann halt durch solche Mätzchen wie Messungen in Sichtweite des Aufhebungsschildes ausgeglichen werden. Das geschieht jetzt sogar mit gerichtlichem Segen. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat nichts daran auszusetzen, dass in einer baden-württembergischen Gemeinde jene knapp 90 Meter vor dem Ortsschild geblitzt wurde.

Dabei hatte der Betroffene (er fuhr 78 statt der erlaubten 50 Stundenkilometer) clever argumentiert. Er berief sich auf eine Verwaltungsvorschrift. In der ist geregelt, dass Messungen 150 Meter vom “beschränkenden Schild” entfernt stattfinden sollen. Ausnahmen gelten nur für besonders unfallgefährdete Stellen.

Allerdings sieht das Oberlandesgericht Stuttgart gar keinen Verstoß gegen die Richtlinie. Das Ortausgangsschild sei nämlich nicht beschränkend, es hebe vielmehr die Beschränkung nur auf.

Sicherlich hätten die Richter nicht unbedingt am Wortlaut kleben müssen, sondern auch den Grundgedanken der Vorschrift bemühen können. Grund für diese Unlust zur Auslegung mag sein, dass in Baden-Württemberg laut Oberlandesgericht andere Richtlinien ausgelaufen sind, denen man ein Blitzverbot nahe dem Ortsausgangsschild entnehmen konnte. Wird vielleicht seinen Grund haben, dass ausgerechnet diese Vorschriften nicht verlängert wurden.

Fies bleibt es ohnehin.

(via kLAWtext)

Öffentlich-rechtliches Geschäftsmodell

Kommt es zu einer Hausdurchsuchung, sind PCs und Notebooks erst mal weg. Gleiches gilt für Datenträger, etwa externe Festplatten. Wer kein Backup an einem anderen Ort hat, steht da schnell auf dem Schlauch – beruflich und/oder privat. Der Staat nutzt die Not der Betroffenen mittlerweile für ein öffentlich-rechtliches Geschäftsmodell. Polizeibehörden bitten Betroffene gerne zur Kasse, bevor sie dringend benötigte Daten aushändigen.

Der Polizeipräsident von Berlin hat das Verfahren regelrecht perfektioniert. Jeder Beschuldigte, der zum Beispiel Geschäftsunterlagen oder die Datei mit dem Entwurf seiner Magisterarbeit benötigt, kriegt einen “Dienstvertrag” zugeschickt – nachdem der zuständige Staatsanwalt die Freigabe der Daten genehmigt hat.

Der Polizeipräsident nennt sich in dem Vertrag “Verpflichteter” und bietet eine “Dienstleistung” an. Zum Beispiel: Kopien der Verzeichnisse/Dateien vom Notebook Ordner: Desktop “Diplomarbeit”.

Der Beschuldigte heißt “Berechtigter”. Er ist aber auch zu was verpflichtet. Er muss seine Geldbörse zücken und Gebühren zahlen, die “gemäß KostKat” anfallen. In Klammern wird dies näher erläutert:

In der Regel bewegen sich die Kosten je nach Aufwand der Dienstleistung zwischen 100,00 und 350,00 Euro, können aber durchaus diese Obergrenze überschreiten!!!

Die Ausrufezeichen sind original. Mindestens 100,00 Euro für zwei, drei Klicks mit der Maus und einen CD-Rohling? So einfach ist es nach Auffassung der Dienstleister nun auch wieder nicht. Selbstverständlich muss ja streng darauf geachtet werden, das System nicht zu korrumpieren. Weswegen eben nur die Leute aus der Kriminaltechnik dran können, also ausgewiesene Superduperspezialexperten.

Unabhängig von der Höhe der Entlohnung wird man auch darüber diskutieren können, ob dieses Dienstleistungssystem überhaupt erforderlich wäre, wenn die Polizeiarbeit einigermaßen funktionierte. Es macht ja schon einen Unterschied, ob Computer zügig durchgesehen werden. Das heißt eine Grobsichtung spätestens nach zwei Tagen und, sofern Verdächtiges gefunden wird, die genaue Analyse binnen 14 Tagen.

So sollte es eigentlich sein, die Wirklichkeit sieht anders aus. Hardware wird beschlagnahmt und landet bei Bergen bereits beschlagnahmter Hardware. Für eine Schnelldurchsicht ist keine Zeit. Die normale Auswertung dauert vier bis acht Monate – sofern die Asservate bis dahin nicht anderweitig abgängig sind. Das ist nicht unbedingt das, was man sich gemeinhin unter einem zügigen Verfahren vorstellt, wie es unter anderem von der Europäischen Menschenrechtskonvention verlangt wird.

Die Polizei hält also für die eigene Unfähigkeit, ihre Arbeit zügig zu erledigen, die Hand auf. Die meisten Betroffenen zahlen notgedrungen. Letztlich auch aus der Erkenntnis, dass Beschwerdegerichte zwar die säumige Polizei durchaus per Beschluss zur Tätigkeit zwingen. Allerdings brauchen sie hierfür meist selbst Monate.

Fluffigere Laken

Gestern habe ich einen Mandanten im Gefängnis besucht. Ein Mitarbeiter öffnete mir die Tür zum Besprechungszimmer. Dann legte er noch ein Blatt Papier auf den Tisch. Ich wollte das dankend zurückgeben, weil ich einen Notizblock dabei hatte. “Nein”, winkte der Justizbeamte ab. “Das ist der Fragebogen. Den füllen wir nach dem Besuch gemeinsam aus.”

Das Papier war in der Tat fast selbsterklärend. Nach meinen Personalien und den Angaben zum Mandanten hieß es:

Im Ergebnis haben sich nach Rücksprache mit dem Verteidiger für den Vollzug der Untersuchungshaft folgende Hinweise ergeben.

Im Feld darunter sollte nun alles eingetragen werden, was mir am Mandanten auffällt. “Wenn er von Selbstmord spricht”, lockte mich der Gefängnismitarbeiter. “Oder er mir zum Beispiel erzählt, dass die Zeit schnell vergeht, weil er ständig bekifft ist?” spann ich den Faden weiter.

“Zum Beispiel, Herr Anwalt”, kriegte ich recht trocken zurück. “Halt alles, was die Anstaltsleitung interessiert.” Ich setzte die Diskussion nicht fort. Was hätte meine Erklärung auch groß bewirkt? Den Fragebogen hat sich die Anstaltsleitung ausgedacht, also wird er halt im Besuchsraum ausgelegt.

Praktisch ist es schon eine Frage, ob ich mich als Verteidiger an dem Quiz beteilige. Beziehungsweise das überhaupt darf. Dinge, die mir mein Mandant berichtet, unterliegen erst einmal der Schweigepflicht. Ich kann also nicht so ohne weiteres hingehen und über Drogenkonsum plaudern, über ungenehmigte Handys oder Playstations, mit denen man auch Porno-DVDs gucken kann. (Sämtliche Beispiele rein fiktiv.)

Um nicht als Spielverderber da zu stehen, werde ich Mandanten künftig nach ihren Wünschen fragen. Gescheite Cola etwa, interessantere Bücher, fluffigere Bettlaken oder ein besserer Einkauf. Das schreibe ich dann in den Fragebogen. Ob’s was hilft, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt.

Kurz mal verhaftet

Strafprozesse dauern mitunter Jahre. Deshalb fand ich es nicht sonderlich verwunderlich, dass ich in einer Sache seit Anfang 2009 nichts mehr vom Amtsgericht gehört hatte. Damals hatte ich Einspruch gegen einen Strafbefehl eingelegt. Es ging um eine kleine Geldstrafe, verhältnismäßig läppische 40 Tagessätze. Meinem Mandanten wurde eine kleine Urkundenfälschung vorgeworfen.

Seit fast zweieinhalb Jahren war also Ruhe an der Front. Das Gericht will  ja was vom Angeklagten, nicht wir vom Gericht. Außerdem ist es für einen Betroffenen immer gut, wenn zwischen Tat und Urteil möglichst viel Zeit vergeht. Das führt nämlich zwingend zur Strafmilderung, wenn es zu einer Verurteilung kommt. Deshalb drängelte ich auch nicht und weckte damit auch keine schlafenden Hunde. Stattdessen notierte ich immer wieder eine neue Vorlage in sechs Monaten, wenn  meine Akte turnusmäßig auf den Tisch kam.

Am Wochenende erfuhr ich, dass der zuständige Richter keineswegs überlastet ist. Mein Mandant wurde nämlich am Samstagmorgen bei einer Verkehrskontrolle festgenommen. Gegen ihn lag seit Anfang 2009 ein Haftbefehl vor, mit dem der Richter Untersuchungshaft anordnete. Begründung: Fluchtgefahr.

Nun fragt man sich, wieso ein ansonsten im Leben stehender Bürger wegen einer Geldstrafe, die er überdies locker bezahlen kann, alles hinter sich lassen sollte. Der Richter sah es aber so. Er schrieb in den Haftbefehl, mein Mandant habe sich “abgesetzt”, damit über den Einspruch gegen den Strafbefehl nicht verhandelt werden kann. Das begründe erwähnte Fluchtgefahr. Schon diese Annahme ist ziemlich absurd. Über einen Strafbefehl kann nämlich jederzeit ohne den Angeklagten verhandelt werden. Der Angeklagte ist schon von Gesetzes wegen nicht verpflichtet, in der Hauptverhandlung zu erscheinen. Er kann sich zum Beispiel durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen.

Der Richter machte sogar Ausführungen dazu, wieso sein Haftbefehl verhältnismäßig sei. Mich überzeugte davon kein Wort. Schon die Behauptung, mein Mandant wolle eine Hauptverhandlung vermeiden, ist so schlicht an den Haaren herbeigezogen. Das Gericht hat nämlich bislang noch nicht mal einen Verhandlungstermin angesetzt, sondern nach meinem Einspruch gegen den Strafbefehl quasi als nächste Amtshandlung den Haftbefehl erlassen.

Der eigentliche Anlass für den Haftbefehl war demnach auch nicht der Umstand, dass mein Mandant eine Verhandlung geschwänzt hat, obwohl er, wie gesagt, überhaupt nicht kommen muss. Vielmehr kam wohl ein Schreiben des Gerichts, das ihn adressiert war, mit der Angabe “Empfänger unbekannt” zurück. Darauf basierte dann die Vermutung, er sei auf der Flucht.

Nun ist der Betroffene ein unauffälliger Mensch. Deshalb dauerte es mehr als zwei Jahre, bis die Polizei ihn zufällig “ergreifen” konnte. Mein Mandant war verständlicherweise völlig von den Socken, dass er auf das Polizeipräsidium gebracht und dort in eine überhitzte Zelle eingesperrt wurde.

Zum Glück gab es an diesem Tag einen Richternotdienst. Immerhin stand im Haftbefehl, die Anordnung könne außer Vollzug gesetzt werden, sofern mein Mandant eine “amtliche Meldebestätigung” vorlegt. (Ohne diesen Zusatz würde ich mir heute übrigens ernstlich überlegen, ob man hier was in Richtung Freiheitsberaubung oder Rechtsbeugung unternehmen muss.)

Eine amtliche Meldebestätigung hatte mein Mandant am Samstagmorgen nicht dabei. Aber er hatte einen neuen Personalausweis in der Tasche, ausgestellt im November 2010. Also ungefähr zwei Jahre, nachdem er sich nach Auffassung des Richters auf die Flucht begeben hat. Meine Idee war es dann, die im Ausweis vermerkte Adresse auf der Polizeiwache im Polizeipräsidium überprüfen zu lassen. Die Beamten haben ja Online-Zugriff auf die aktuellen Meldedaten.

Die Eilrichterin war damit einverstanden. Und siehe da, der Polizeicomputer bestätigte die Wohnadresse laut Personalausweis. Es dauerte nur noch fünf Minuten, bis der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt war. Mein Mandant war wieder ein freier Mann. Ich hoffe, er hat das Restwochenende genutzt, um sich von dem Schock zu erholen.

Der eine oder andere wird sich jetzt fragen, wieso ein Gericht einfach einen mehr als fragwürdigen Haftbefehl produziert und dann zweieinhalb Jahre nicht ein einziges Mal kontrolliert, ob die Voraussetzungen (noch) vorliegen. Immerhin hätte etwa eine Meldeanfrage schon sehr bald zu der Erkenntnis geführt, dass mein Mandant einen ordentlich gemeldeten Wohnsitz hat, an dem man ihm Gerichtspost zustellen kann. Jedenfalls wäre es ihm dann nicht vorzuwerfen, wenn mal wieder ein verpeilter Zusteller den Briefkasten nicht findet.

Auf die Frage habe ich leider auch keine plausible Antwort. Nur Vermutungen über die Einstellung mancher Richter zum gemeinen Volk, die ich im Detail aber beim besten Willen hier nicht äußern möchte.

Warum über Loverboys nicht geredet wird

Wie Menschen getäuscht werden – damit kennt sich Bärbel Kannemann beruflich aus. Die 63-Jährige war Kriminalbeamtin in einem Betrugskommissariat. Nach ihrer Pensionierung nutzt sie ihre Erfahrung ehrenamtlich und warnt bundesweit vor „Loverboys“. Das sind Männer, die Mädchen und junge Frauen erst mit Schmeicheleien betören, sie dann aber zur Prostitution und sogar zu Straftaten wie Drogenhandel zwingen.

Wir sprachen mit Bärbel Kannemann über Herkunft, Entwicklung und Vorbeugung der neuen Art eines Verbrechens.

Wer sind die Loverboys?

Loverboys sind in der Regel junge Männer zwischen 18 und 30 Jahren. In den meisten Fällen Anfang 20.

Was tun diese Männer?

Sie kontaktieren junge Mädchen vor Schulen, auf Schulhöfen, im Internet, im Kino oder in Fast-Food-Restaurants. Sie spielen den Mädchen Gefühle vor, geben ihnen Bestätigung, um sie dann in die Prostitution oder zu Straftaten zu bringen.

Ist das ein Geschäft für diese Männer?

Das ist eindeutig ein Geschäft. Nichts anderes. Es profitiert allerdings einzig und allein der Loverboy.

Ist die Szene organisiert, gibt es Hintermänner?

Das ist derzeit schwer zu sagen. Aber wenn man hört, dass einzelne Opfer von Loverboys mit sechseinhalb Kilo Kokain auf einem Flug von Kolumbien nach Madrid erwischt werden, dann kann es sich nicht nur um Einzeltäter handeln.

Woher kommt das Phänomen?

In den Niederlanden wird seit 15 Jahren davon gesprochen, in Deutschland wird das Thema weitgehend totgeschwiegen. Man spricht nicht drüber, man schämt sich. Niemand möchte beginnen, unbefangen über das Problem zu reden.

Wer sind die Opfer?

Junge Frauen aus allen sozialen Schichten. Das sind nicht nur kleine Naivchen. Ich höre immer wieder: Wie kann man so blöd sein, auf diese Typen reinzufallen? Das hat nichts mit Blödsein zu tun. Es sind Mädchen, die im Moment der Kontaktaufnahme einfach in irgendeiner Lebenskrise stecken. Das kann alles Mögliche sein, Schulwechsel, ein Todesfall in der Familie, finanzielle Probleme. Oder es handelt sich ganz einfach um junge Frauen, die Anerkennung, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Beachtung und Bestätigung brauchen. Das kann jedes Mädchen aus jeder Familie sein. Aus jeder sozialen Schicht.

In welchem Alter?

Die Jüngsten sind elf Jahre alt, wir haben momentan sehr viele Mädchen im Alter von 13 Jahren. Es gibt auch eine weitere Gruppe volljähriger junger Frauen um die 20.

Welche Straftaten begehen Loverboys an ihren Opfern?

Es geht primär um Menschenhandel, Freiheitsberaubung, Vergewaltigung, Körperverletzung.

Sie sagen, diese Straftaten werden in Deutschland totgeschwiegen? Wie kann das sein?

Ich mache keinesfalls der Politik oder der Polizei einen Vorwurf. Es wird nämlich meist keine Anzeige erstattet. Jedes Mädchen, jede Familie denkt, das ist nur mir passiert, ich habe etwas falsch gemacht. Alle Mütter fragen sich: Was habe ich falsch gemacht? Man geht nicht zur Polizei, weil man einfach denkt, es ist nur mir passiert. Wenn die Straftaten nicht ans Licht kommen, wird weder in der Politik was passieren noch die Polizei sensibilisiert.

Was sollen die Opfer oder deren Angehörige denn tun?

Sie müssen in erster Linie erkennen, dass es nicht ihre “Schuld” ist. Sich in den falschen Mann zu verlieben, passiert oft und in jeder Altersstufe. Man darf das Verhalten der Opfer deshalb nicht als Fehler bezeichnen. Die schlimmen Dinge machen die Täter. Wenn ein Mädchen mit elf, zwölf Jahren an einen Loverboy gerät, wird es verwöhnt, aber gleichzeitig von seinem sonstigen Umfeld isoliert. Wichtig ist, Hilfe zu suchen – und auch Anzeige zu erstatten.

Gibt es Anzeichen, wie die Täter mit den Opfern umgehen?

Die Täter müssen keine hochintelligenten Kriminellen sein. Es reicht psychologischer Spürsinn. Sie machen im Ergebnis mit den Mädchen eine Art Gehirnwäsche. Das Opfer wird emotional an den Täter gebunden – oft auch unterstützt von Drogen.

Wie sollen Opfer und deren Eltern etwas merken?

Häufig stecken die Mädchen in der Pubertät. Sie sind ohnehin zickig, kommen zu spät nach Hause, wechseln den Kleidungsstil. Die Opfer zeigen aber womöglich andere Auffälligkeiten. Uns wird oft von stundenlangen Duschen berichtet. Außerdem verfügen die Betroffenen plötzlich über Gegenstände, die sie von ihrem Taschengeld nicht finanzieren können. Sie tragen womöglich auch mehr Make up. Weitere Auffälligkeiten können Essstörungen sein, Selbstverletzungen, Zweit- oder Dritthandys für unbekannte Zwecke, nächtliche Anrufe. Opfer ziehen sich auch meist von der Familie zurück.

Woher haben Sie Ihr Wissen?

Ich war rund 40 Jahre bei der Polizei, habe nach meiner Pensionierung fast ein Jahr in den Niederlanden gelebt und habe dort Elternabende organisiert, mit Politikern gesprochen, mit der Polizei und – ganz entscheidend – mit Opfern.

Wie viele Opfer gibt es in Deutschland?

Laut den offiziellen Zahlen des Bundeskriminalamtes gab es in den vergangenen drei Jahren drei Opfer zwischen 12 und 16 Jahren. Das Dunkelfeld muss aber enorm sein. Bei mir haben sich im vorigen Sommer in einer Woche acht Betroffene gemeldet. Derzeit melden sich fast täglich Opfer oder deren Eltern.

Eilod.de, die “Initiative für Lover Boy Opfer Deutschland” ist mittlerweile online. Außerdem gibt es in Düsseldorf ein von der Stadt gefördertes Selbsthilfe-Büro als Anlaufstelle, Telefon 0211 – 89 92 244. (pbd)

Zugewachsene Verkehrsschilder gelten nicht

Verkehrsschilder, die zugewachsen sind, entfalten keine Wirkung. Autofahrer müssen aus der Umgebung – beispielsweise durch die Art der Bebauung – nicht darauf schließen, dass sie etwa durch eine Tempo-30-Zone fahren. Auf diese Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 30. September 2010 (AZ: III-3 RBs 336/09) weist die Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) hin.

Ein Autofahrer wurde zu einer Geldbuße wegen Überschreitung der Geschwindigkeit in einer Tempo-30-Zone um 40 km/h verurteilt. Das Verkehrsschild war jedoch durch Laub verdeckt und  nicht erkennbar, weswegen der Fahrer klagte. Das Amtsgericht führte aus, dass der Autofahrer aufgrund der örtlichen Verhältnisse wie etwa die Art der Bebauung und einer verengten Fahrbahn hätte erkennen können, dass der Bereich als Tempo-30-Zone ausgestaltet war.

Das sah das Oberlandesgericht anders. Maßgebend für die Verbindlichkeit von Verkehrsschildern sei deren Erkennbarkeit. Ebenso gelte der Sichtbarkeitsgrundsatz. Da das Geschwindigkeitsschild durch Laub verdeckt gewesen sei, habe es keine Wirkung entfaltet. Es bleibe daher bei einem Geschwindigkeitsverstoß wegen Überschreitung der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h, also einer Überschreitung um „nur“ 20 km/h.

Wegen der geringeren Höhe des Bußgeldes gab es im vorliegenden Fall keine Punkte in Flensburg.

Die neuen Ausgestoßenen

Aus der Sicherungsverwahrung entlassene Straftäter können negative Auswirkungen auf das Wohnumfeld haben. Mit dieser Begründung verurteilte das Landgericht Dortmund jetzt einen Mann, die von ihm gemietete Wohnung zu räumen. Der Vermieter hatte den Mietvertrag wegen arglistiger Täuschung angefochten.

Der Mann hatte den Vermieter nicht gesagt, dass er sich bis Ende 2010 in der Sicherungsverwahrung befand. Er war aufgrund der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Unrechtmäßigkeit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung entlassen worden.

Grundsätzlich meint zwar auch das Landgericht Dortmund, entlassene Straftäter müssten Vermieter nicht über ihre Vorstrafen informieren. Dieser Fall sei jedoch anders gelagert., Der Mann sei nicht deshalb entlassen worden, weil er als resozialisiert gelte und die Sicherungsverwahrung deshalb nicht mehr erforderlich sei. Das zeige sich auch daran, dass der Betroffene nur unter strengen Auflagen freigekommen sei.

Die Anwesenheit des Betroffen könne zu Bürgerprotesten und negativer Berichterstattung führen. Dies setze die Wohnqualität auch für die Mitmieter herab. Das Landgericht betrachtete dies gar als so gravierend, dass es dem Mann nicht mal eine Räumungsfrist bewilligte.

Ich kann über dieses Urteil nur den Kopf schütteln. Es ist schon von den Grundannahmen falsch. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgestellt, dass die Sicherungsverwahrten zu Unrecht eingesperrt waren. Die Inhaftierung war nicht nur einfach rechtswidrig; sie verletzte sogar die Menschenrechte. Die staatliche Maßnahme war also von vornherein ohne jede Grundlage – die Freilassung hat lediglich den rechtmäßigen Zustand wieder hergestellt.

Wenn sich das Landgericht Dortmund nun hinstellt und im Ergebnis sagt, der Betroffene müsste eigentlich weiter in Sicherungsverwahrung sein, maßt es sich zunächst an, es besser zu wissen als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Was es nicht darf, denn auch das Landgericht Dortmund hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu beachten. Das hat das Bundesverfassungsgericht ja erst kürzlich den Strafgerichten in deutlichen Worten gesagt. 

Überhaupt ist die Frage nach einer Resozialisierung auch kein taugliches Kriterium. Offensichtlich ist dem Landgericht Dortmund nicht bekannt, dass eine Vielzahl von Straftätern entlassen wird, obwohl sie als “gefährlich” eingestuft werden können. Das kann schon daran liegen, dass sie ihre Haftstrafe bis zum letzten Tag abgesessen haben. Dann hat auch der Staat nicht mehr das Recht zu prüfen, ob der Verurteilte möglicherweise weiter zu Straftaten neigt. Etwas anderes gilt nur für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung vorliegen (was bei dem Dortmunder Mieter, der seine Strafe überdies ohnehin schon verbüßt hat, eben nicht der Fall war).

Eine Aufklärungspflicht für den Betroffenen ist gleichbedeutend mit seiner Obdachlosigkeit. Kein Vermieter wird eine Wohnung an eine Person vermieten, die sich als ehemaliger Sicherungsverwahrter outet. Das Landgericht Dortmund spricht also ein gesellschaftliches Todesurteil. Damit trägt es auch aktiv dazu bei, dass der Sicherungsverwahrte nicht einmal die leiseste Chance erhält, nicht nur in Freiheit, sondern auch in die Gesellschaft zurückzufinden.

Sicherlich kann die Anwesenheit eines ehemaligen Sicherungsverwahrten die Wohnqualität beeinträchtigen. Aber der damit verbundene “Schaden” fürs Viertel ist nun mal die notwendige Folge des Umstandes, dass auch Straftäter (Grund-)Rechte haben. Überdies werden die “Auflagen” ( = Überwachung) ja auch gerade deswegen angeordnet, um das Risiko weiterer Straftaten zu reduzieren.

Das Landgericht Dortmund macht diese Menschen nun faktisch zu Ausgestoßenen. Das Bundesverfassungsgericht wird hoffentlich in absehbarer Zeit deutliche Worte zu diesem Urteil finden.

Näheres zur Entscheidung

NRW plant neue Häuser für Sicherungsverwahrte

Die Unterbringung von derzeit etwa 117 gefährlichen Gefangenen, für die auch eine Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, beschäftigt das Justizministerium in Nordrhein-Westfalen derzeit erheblich.

Die Voraussetzungen für einen Neubau in Werl seien aber „günstig“, sagte Minister Thomas Kutschaty (SPD) im Rechtausschuss des Landtags. Ob es auch in der Nähe des Gefängnisses Aachen zu einer neuen Einrichtung komme komme, sei „noch nicht absehbar“.

Falls es noch mehr Sicherungsverwahrungen gebe, müsse möglicherweise noch ein Standort im Rheinland überlegt werden; einen Ort nannte Kutschaty aber nicht. Der Minister berief sich auf die engen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und noch zu schaffende Rahmenbedingungen vor Ort, deswegen sei auch der Bau- und Liegenschafsbetrieb in die Planung einbezogen. (pbd)

Videoüberwachung in Hannover rechtswidrig

Die Polizei in Hannover darf nur den fließenden Verkehr mit Videokameras überwachen. Eine sonstige Beobachtung des “öffentlichen Raums” hält das Verwaltungsgericht für unzulässig, so lange nicht an Ort und Stelle eindeutig auf die Überwachung hingewiesen wird.

In Hannover hat die Polizei rund 70 Kameras zur Beobachtung installiert, die grundsätzlich auch Aufnahmen speichern können. Der Kläger, laut taz ein Mitglied des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung,  hat sich insbesondere mit dem Bedenken gegen die Videoüberwachung gewandt, die Beobachtung erfolge nicht offen, wie es vom Gesetz gefordert sei.

Die Polizeidirektion Hannover ist dem mit dem Vortrag entgegengetreten, sie verstecke die Kameras nicht. Sie habe die Allgemeinheit durch Pressearbeit über die Videoüberwachung aufgeklärt. Im Internet könne sich jedermann über die Standorte der Kameras informieren. Dort sei auch erkennbar, welche Kamera jeweils gerade aktiviert sei.

Dies reicht nach Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht aus, um die Vorgaben des Gesetzes zu erfüllen. Eine Videoüberwachung sei nach § 32 Abs. 3 des Nds. Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung nur als "offene" Beobachtung zulässig. Diese Offenheit werde durch die Information alleine im Internet nicht gewährleistet.

Der Betroffene müsse vielmehr im öffentlichen Raum selbst erkennen können, ob der Bereich einer Beobachtung unterliege. Gerade bei hoch angebrachten Kameras sei eine Erkennbarkeit der Beobachtung nicht gegeben. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung könne nur derjenige wahrnehmen und sein Verhalten darauf ausrichten, der Kenntnis von der Überwachung habe.

Das Gericht hat die Berufung gegen das Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Verwaltungsgericht Hannover, Aktenzeichen 10 A 5452/10

Wie ein Minister seinem Beamten schadet

Schleswig-Holsteins Innenminister Klaus Schlie geriet letzten Monat in die Schlagzeilen. Er hatte eine Amtsrichterin dafür gerüffelt, dass sie einen Polizeibeamten wegen Körperverletzung an einem Bürger zu einer Geldstrafe verurteilte (Bericht im law blog).

Obwohl die Urteilsbegründung noch gar nicht geschrieben war, bot der Innenminister der Richterin in einem persönlich adressierten Schreiben Nachhilfe an – in Form einer Nachtfahrt mit einer Polizeistreife. Außerdem schickte er seinen Brief gleich noch als CC an alle Polizisten in Schleswig-Holstein. Hierbei machte er sich offenbar noch nicht mal die Mühe, den Namen der Richterin zu schwärzen.

Klaus Schlie hat wohl nicht bedacht, dass sein markiges Auftreten nach hinten losgehen könnte. Ich spreche nicht von der Kritik, die der Innenminister für seinen Versuch einstecken musste, die Justiz unter Druck zu setzen. Unter anderem hat sich auch einer seiner Kollegen, nämlich der Justizminister, entschieden gegen die Einflussnahme verwahrt.

Ich meine vielmehr den Umstand, dass die Sache nun möglicherweise auch indirekt auf dem Rücken des verurteilten Polizisten ausgetragen wird. Nun liegt das Urteil nämlich in schriftlicher Form vor. Es ist lesenswert, schon allein weil es dokumentiert, wie eine alltägliche Situation (es ging noch nicht einmal um eine Straftat), durch übertriebene Maßnahmen und bewusste Eskalation zu einem Fiasko mutiert.

Nicht nur einem Juristen wird die Mühe auffallen, die sich die Amtsrichterin mit dem Urteil gegeben hat. Die Entscheidung ist von vorne bis hinten detailliert, strukturiert und logisch stringent. Das gilt für die Schilderung der Ereignisse wie auch für die rechtliche Würdigung.  Man darf wohl mit Fug und Recht annehmen, dass eine Strafrichterin mit ihrer Arbeit komplett absaufen würde, schriebe sie jedes ihrer Urteile mit so einer Akribie.

Eine saubere Entscheidung also, an der wenig zu meckern ist. Selbstverständlich wird das Landgericht, wenn es über die wohl eingelegte Berufung entscheidet, pflichtgemäß den gesamten Sachverhalt noch einmal aufrollen. Allerdings steht das Urteil des Amtsgerichts erst mal im Raum. Es dürfte schon wegen seiner Qualität eine gewisse Wirkung nicht verfehlen.

Ohnehin wage ich die Prognose, dass auch die Berufungsrichter nicht als Hasenfüße dastehen wollen, die vor einem, wenn auch hochrangigen Mitglied der Exekutive kuschen. Es spricht vieles dafür, dass der Polizist schon aus diesem Grund eher nicht mit einer Milde rechnen kann, die gutgelaunte und entspannte Richter im Rahmen des ihnen eingeräumten Spielraums durchaus walten lassen können.

Wenn es am Ende also bei der Vorstrafe bleibt, kann sich der Polizist am Ende zu einem guten Teil auch bei Minister Schlie bedanken.

Erotikangebote: Hinweis auf Volljährigkeit bewahrt vor Verboten

Wenn Erwachsene sich freizügig ablichten lassen, ist dagegen juristisch nichts einzuwenden. Was aber, wenn das Material auf einem Erotikportal veröffentlicht wird, die Darsteller aber (zumindest in den Augen des zuständigen Jugendschützers) jünger wirken als 18 Jahre?

Obwohl die Volljährigkeit der Darsteller nachgewiesen wurde, versuchen Behörden immer wieder, das Angebot aus dem Netz zu nehmen. Sie berufen sich hierbei auf den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV). Dieser bestimmt:

Unbeschadet strafrechtlicher Verantwortlichkeit sind Angebote unzulässig, wenn sie … Kinder oder Jugendliche in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung darstellen; dies gilt auch bei virtuellen Darstellungen.

Nach Auffassung der Aufsichtsbehörden reicht es schon aus, wenn lediglich der Anschein erweckt wird, der Darsteller sei jünger als 18 Jahre. Selbst wenn man das aus der Vorschrift herauslesen will, stellt sich die Frage, ob sich so ein möglicher Anschein nicht auch entkräften lässt.

Ein Anbieter hatte einen naheliegenden Gedanken. Er wies bei erwachsenen Darstellern, die jung wirken, im Vorschaubereich einzeln darauf hin, dass die abgebildeten Personen nachweislich volljährig sind. Dennoch wollte ihm die Bayerische Landeszentrale für neue Medien das Angebot untersagen.

Beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof bekam der Anbieter nun recht. Die Richter können dem JMStV noch nicht einmal entnehmen, dass die Vorschrift auch “Scheinjugendliche” erfasst. Überdies weisen sie darauf hin, es sei auch keine Täuschung über das Alter, wenn die Darsteller als jung inszeniert würden.

Der ausdrückliche und für den Nutzer unumgängliche Hinweis, dass es sich um Erwachsene handelt, beseitige jedenfalls den Anschein der Minderjährigkeit.

(via it-recht kanzlei)

Verlorene Autoschlüssel können teuer werden

Nach dem Verlust des Zündschlüssels müssen Autobesitzer sich sofort um die Sicherheit des Fahrzeugs kümmern, sonst verlieren sie ihren Versicherungsschutz. So hat es das Landgericht Kleve entschieden (Aktenzeichen 6 O 79/10).

Damit ist eine Autobesitzerin aus Uedem mit ihrer Klage gegen die Versicherung gescheitert. Die Frau hatte ihren Peugeot 206 freitagabends auf dem Stellplatz vor der Wohnung geparkt und stellte am nächsten Tag den Verlust eines Schlüssels fest.

Sie erkundigte sich zwar vergeblich bei ihren Nachbarn, bei der Polizei und versuchte es auch beim Fundbüro, das aber zum Wochenende nicht mehr besetzt war. Am Samstagmorgen nahm sie ihren Ersatzschlüssel, fuhr zur Arbeit, kam am frühen Nachmittag zurück.

Etwa zweieinhalb Stunden später war das Auto weg.

Ein 9-jähriger Steppke hatte den verlorenen Schlüssel gefunden, mit dem Funkknopf die Türen geöffnet und bei der anschließenden Spritztour einen Unfall verursacht – dabei wurde das Auto der Frau an der linken Seite beschädigt. Ein Gutachter machte einen Schaden von gut 1 500 Euro aus.

Dieses Geld verlangte die Frau von ihrer Vollkaskoversicherung, die allerdings jede Zahlung verweigerte. Die Uedemerin habe „jegliche geeignete Sicherungsmaßnahmen“ versäumt. Dabei sei es auch am Wochenende möglich gewesen, Peugeot-Autohäuser zu erreichen, die den Schlüssel hätten umcodieren oder die Schlösser hätten austauschen können.

Im Umkreis von unter 20 Kilometern von der Wohnanschrift der Klägerin gebe es 5 solcher Händler. Außerdem sei dem Jungen „die Zuordnung des Schlüssels zum Auto spielend leicht“ gelungen. So unterstellte denn bereits das Amtsgericht Kleve der Autobesitzerin „grobe Fahrlässigkeit“. Aufgrund derer die Versicherung ihre Leistung kürzen, womöglich gar auf Null bringen könne.

Dieser Ansicht schloss sich das Landgericht Kleve in der nächsten Instanz an. Das Verschulden der Klägerin wiege „schwer“. Die Frau habe in Betracht ziehen müssen, dass der Schlüssel von jemand anderem gefunden worden sein könnte. Sie habe nicht einmal den Versuch nachgewiesen, mit irgendeinem Peugeot-Autohaus zu telefonieren.

Notfalls hätte sie „alternativ Sicherungsmaßnahmen in Betracht ziehen“ müssen. Die Kammer erwähnt eine manuelle „manuelle Lenkradsperre oder ähnliches“. Eine Revision gegen das Urteil wurde nicht zugelassen. (pbd)

Breaking: Prozesskosten steuerlich absetzbar

Prozessieren wird in Deutschland künftig deutlich angenehmer. Die Kosten für einen Zivilrechtsstreit sind ab sofort von der Steuer absetzbar! Wer weiß, wie selten ich Ausrufezeichen setze, kann die praktische Bedeutung erahnen, welche ein heute bekanntgegebenes Urteil des Bundesfinanzhofs haben wird. Nicht nur für jeden Steuerzahler mit juristischen Problemen, sondern auch für den Geldbeutel der Anwälte.

Bisher wurden die Kosten für Zivilprozesse fast nie als außergewöhnliche Belastung akzeptiert. Bei den allermeisten Prozessen hieß es, die seien so was wie Privatvergnügen des Steuerzahlers. Dafür müsse er auch selbst gerade stehen.

Dabei schwang auch die Erwägung mit, dass an sich nur der Unterlegene das Finanzamt beteiligen kann, weil der Prozessgewinner ohnehin seine Kosten erstattet bekommt. Der Verlierer hätte ja auch gleich wissen können, dass er mit seinen Argumenten nicht durchkommt. So hätte er sich den Prozess ersparen können.

Von dieser Auffassung rückt der Bundesfinanzhof nun ab. Und zwar mit folgender Erkenntnis:

Vorherzusagen wie ein Gericht entscheiden wird, ist "riskant". Denn nur selten findet sich der zu entscheidende Sachverhalt so deutlich im Gesetz wieder, dass der Richter seine Entscheidung mit arithmetischer Gewissheit aus dem Gesetzestext ablesen kann. Nicht zuletzt deshalb bietet die Rechtsordnung ihren Bürgern ein sorgfältig ausgebautes und mehrstufiges Gerichtssystem an.

Die neue steuerliche Absetzbarkeit ist auch nicht auf bestimmte Teilbereiche des Zivilrechts beschränkt. Allerdings sollen mutwillig geführte Prozesse auch künftig nicht begünstigt werden. Auch für die Verliererseite muss es deshalb zu Prozessbeginn “hinreichende Erfolgsaussichten”  gegeben haben.

Hier besteht natürlich die Gefahr, dass der Ausgangsprozess am Finanzgericht dann noch einmal geführt wird – nur um die Erfolgsaussichten abzuschätzen. Auch den heute entschiedenen Fall hat der Bundesfinanzhof zurückgewiesen. Es muss nun von Finanzrichtern geklärt werden, ob die vom Betroffenen erhobene Klage auf Krankentagegeld hinreichende Erfolgsaussichten hatte.

Außerdem begrenzt der Bundesfinanzhof die Kosten auf angemessene Beträge. Was wohl heißt, dass maximal die gesetzlichen Gebühren berücksichtigt werden. Wer seinen Anwälten hohe Stundensätze oder Pauschalen zahlt, soll keine Steuervorteile haben.

Großer Verlierer könnten die Rechtsschutzversicherungen sein. Was sie an Kunden erstatten, kann nicht von der Steuer abgesetzt werden. Außerdem wird auch ein verlorener Prozess jetzt natürlich immer um den persönlichen Steuersatz des Betroffenen “günstiger”, weil er entsprechende Abgaben spart. Das kann je nach Steuerlast einen einen Faktor ausmachen, bei dem sich eine Rechtsschutzversicherung voraussichtlich kaum noch lohnt.

Eine Prognose wage ich schon jetzt: Die Zahl der Zivilprozesse in Deutschland wird die Entscheidung von heute nicht unbedingt reduzieren. Zivilrechtsanwälte werden über die Entscheidung deshalb nicht unglücklich sein.

Allerdings könnte auch die Bereitschaft zu Vergleichen zunehmen, weil sich das Finanzamt wohl auch an Kostenquoten beteiligen wird. Die Steuerersparnis auf beiden Seiten kann ein gutes Argument sein, den Rechtsstreit doch ohne Urteil zu beenden.

Urteil des Bundesfinanzhofs vom 13. Juli 2011