„Schaffung von Bewusstsein“

Wozu ist das Strafrecht da? Vor gar nicht allzu langer Zeit hätte die Antwort vermutlich gelautet, das Strafrecht sei die „ultima ratio“, also das letzte Mittel, zur Beherrschung gesellschaftlicher Konflikte.

Eine offenkundig stark abweichende Sicht hat Justizministerin Christine Lambrecht. Lambrecht hat bekanntgegeben, dass Gaffer-Fotos künftig unter Strafe stehen sollen, ebenso das Fotografieren unter Röcke (Upskirting).

Interessant ist ihre primäre Legitimation für die neuen Straftatbestände, die man zum Beispiel auf Spiegel Online nachlesen kann:

Lambrecht sagte, ihr Ziel seien weniger die Verurteilungen als eine gesellschaftliche Debatte und die Schaffung von Bewusstsein bei den Menschen, mehr Respekt zu zeigen.

Das Strafrecht degeneriert auf diese Art und Weise zum Instrument einfacher politischer Steuerung. Der Straftatbestand dient sozusagen als – preiswertere – Alternative zu einer Social-Media-Kampagne. Kann man machen. Man sollte sich aber nicht wundern, wenn der Respekt vor dem Strafrecht selbst weiter den Bach runtergeht. Ernst genommen wird nämlich nur etwas, das auch ernst gemeint ist.

Verhaftung nach dem Urteil

Verhaftung im Gerichtssaal, das ist kein schönes Erlebnis. Natürlich nicht für den Angeklagten. Aber auch nicht für seinen Verteidiger. Genau das passierte heute einer Mutter in Lübeck. Diese soll vier ihrer fünf Kinder jahrelang in den Rollstuhl gezwungen haben (z.B. Bericht in der Welt) und erhielt nun eine Haftstrafe von acht Jahren. Direkt nach der Urteilsverkündung wurde sie in Haft genommen.

Für so einen Haftbefehl gelten die gleichen Kriterien wie auch sonst. Eine hohe Straferwartung alleine ist an sich kein ausreichender Anlass. Allerdings bewirkt die Aussicht auf eine hohe Strafe aber in den allermeisten Fällen einen Fluchtanreiz. Von da an ist es dann nicht weit, den meist herangezogenen Haftgrund der Fluchtgefahr zu bejahen.

Jetzt könnte man natürlich fragen, wieso das Gericht diese Fluchtgefahr nicht früher angenommen? Immerhin dürfte das hohe Strafmaß nicht vom Himmel gefallen sein – auch nicht für die Angeklagte. Allerdings hindert früheres Zögern ein Gericht nicht daran, dann doch noch einen Haftbefehl zu erlassen. Behördliches Trödeln hat in dieser Konstellation keine Sperrwirkung.

Etwas komplizierter ist es, wenn ein bereits bestehender Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden ist. Dieser Hafbefehl darf nur wieder aktiviert werden, wenn sich neue, überprüfbare Umstände ergeben haben, welche zum Beispiel die Fluchtgefahr verstärken. Ob dazu ein (für den Angeklagten absehbares hartes) Urteil gehört, darüber könnte man streiten.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Angeklagte in Lübeck von ihrer Verteidigung auf die Möglichkeit vorbereitet wurde, dass sie möglicherweise sofort in Haft geht. Hierfür muss man bei schweigsamen Gerichten dann durchaus die Zeichen zu deuten wissen. Fehlbewertungen sind keinesfalls ausgeschlossen.

Israel muss Siedlerwaren kennzeichnen

Obst und Gemüse aus Israel findet sich ja in vielen Supermärkten. Die Produkte stammen auch aus Gebieten, die an sich gar nicht zu Israel gehören, sondern von dem Land besetzt wurden. Das Westjordanland und Ost-Jerusalem zum Beispiel. Künftig muss auf diesen Umstand besonders hingewiesen werden, hat der Europäische Gerichtshof entschieden.

Verbraucher würden in die Irre geführt, wenn auf Lebensmitteln aus Siedlungen in besetzten Gebieten nur „Israel“ als Ursprungsland angegeben sei. Der Begriff „Land“ sei wie „Staat“ zu verstehen. Die besetzten Gebiete hätten aber völkerrechtlich einen anderen Status, weil Israel dort als Besatzungsmacht präsent sei. Die Besetzung stufen die Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig ein; der Europäische Gerichtshof teilt diese Auffassung.

Die Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel solle Verbrauchern eine „fundierte Wahl“ ermöglichen. Dazu gehörten auch ethische Erwägungen. Deshalb sei zur Vermeidung von Irreführung geboten, die Käufer über den Umstand zu informieren, dass Waren aus einer „israelischen Siedlung“ stammen. Dieser Hinweis muss nach dem Urteil künftig zusätzlich zu finden sein (Aktenzeichen C-363/18).

Private Firmen dürfen keine Autofahrer blitzen

Private Dienstleister dürfen keine Geschwindigkeitskontrollen durchführen, auch wenn sie im Auftrag einer Kommune handeln. Die Verkehrsüberwachung ist eine hoheitliche Tätigkeit, die von städtischen Mitarbeitern ausgeübt werden muss, betont das Oberlandesgericht Frankfurt in einem heute bekanntgewordenen Beschluss.

Die Richter kassieren damit die Praxis der Gemeinde Freigericht im Main-Kinzig-Kreis. Die Stadt hatte die Tempomessung im Rahmen eines „Arbeitnehmerüberlassungsvertrags“ mit einer privaten GmbH ausgelagert. Dadurch werde aber nicht das nötige Dienstverhältnis begründet, so das Gericht. Grundsätzlich müssten eigene Bedienstete den Verkehr überwachen, die Mitarbeiter müssten außerdem entsprechend qualifiziert sein.

Betroffen sind Bußgeldbescheide seit dem 23. März 2017. Da der Mitarbeiter auch in anderen Gemeinden des Main-Kinzig-Kreises eingesetzt war, etwa in Brachttal und Nidderau, können Autofahrer auch dort auf Rehabilitierung hoffen. So wie die Pressemitteilung der Justiz Hessen klingt, geht das OLG Frankfurt wohl nicht von einer formellen Bestandskraft der Bescheide aus. Somit würde es keine Rolle spielen, ob Einspruchsfristen abgelaufen sind (Aktenzeichen 2 Ss-Owi 942/19).

„Toter“ hofft auf Freilassung aus der Haft

In den USA möchte ein Gefangener aus der dort meist wirklich lebenslangen Haft entlassen werden. Weil er wegen einer Erkrankung kurzzeitig „tot“ war, aber erfolgreich wiederbelebt wurde. Wegen seines kurzzeitigen Ablebens, so der Inhaftierte, habe seine Haft geendet.

Nachlesen kann man die Geschichte zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung. Die amerikanischen Gerichte können der Argumentation des Mannes wohl wenig abgewinnen.

Auch in Deutschland hätte so ein Vorbringen doch eher wenig Aussicht auf Erfolg. Zwar gab es früher mal die Auffassung, dass der Tod eintritt, wenn das Herz nicht mehr schlägt. Das war aber zu Zeiten, als Reanimationen eher eine theoretische Möglichkeit waren. Schon vor langem hat sich im deutschen Strafrecht die Ansicht durchgesetzt, wonach der Hirntod eingetreten sein muss, um von einem endgültigen Ableben zu sprechen. Auch bei uns würde es also für ein komplett „neues Leben“ nicht reichen, wenn das Herz des Betroffenen kurzzeitig nicht mehr geschlagen hat und künstlich wieder in Gang gesetzt worden ist.

Anwaltskalender 2020 in der Lostrommel

Was, schon wieder Vorweihnachtszeit? Dann müssen wir hier im law blog einer Tradition huldigen, welche sicher auch viele Leser schätzen. Auch dieses Jahr gibt es den schmucken Anwaltskalender zu gewinnen. Praktischerweise verlosen wir die Ausgabe für 2020 – und das gleich 20 mal!

Der Anwaltskalender des Düsseldorfer Karikaturisten wulkan zeigt zwölf Juristenmotive im Format DIN-A-3. Das Design ist klassisch schwarz-weiß, eine hochwertige Spiralbindung hält die einzelnen Blätter zusammen. Wer einen der Kalender gewinnen möchte, muss nur seine E-Mail-Adresse hinterlassen. Das geht auf folgenden Wegen:

– Einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen. Leider zeigt das Kommentarsystem die hinterlegte E-Mail-Adresse aus Datenschutzgründen nicht mehr vollständig an. Deshalb ist es wichtig, dass ihr auch als registrierte Nutzer die E-Mail-Adresse für einen möglichen Gewinn in den Kommentartext schreibt. Dort ist sie allerdings dann für alle Leser sichtbar, also bitte nur spamunsensible Adressen verwenden.

– Wer kein Risiko eingehen möchte, kann eine E-Mail an folgende Adresse senden: anwaltskalender@web.de. Die dort eingegangenen Mails werde nur ich sehen, und die angegebenen Adressen werden garantiert nur zur Benachrichtigung der Gewinner verwendet.

Beide Wege haben gleiche Gewinnchancen. Wulkan spendiert zehn Kalender, weitere zehn bezahle ich. Damit sind wir schon beim nächsten Punkt: Der Kalender kostet 26,45 € inklusive Versand. Er ist also auf jeden Fall ein schönes Geschenk für alle Juristen im Familien- und Bekanntenkreis, denen man rund um Weihnachten eine Freude machen möchte. Die Kalender versendet wulkan gerne auch an eine Wunschadresse, so dass man in diesem Fall nichts verpacken und zur Post bringen muss.

Wer sich also nicht auf sein Glück verlassen möchte oder mehr als einen Kalender braucht, kann den Kalender auch ordern. Er ist nur im Direktvertrieb erhältlich, Bestellungen bitte an wulkan@arcor.de oder telefonisch unter 0172 200 35 70.

Teilnahmeschluss für die Verlosung ist der 21. November. Allein Teilnehmern viel Glück!

Parken auf Radwegen wird richtig teuer

Das Bundeskabinett hat einige Änderungen beschlossen, die das Leben von Radfahrern und Fußgängern sicherer machen sollen. Die wichtigsten Änderungen:

• Künftig gilt ein festgeschriebenen Mindestabstand von 1,5 Meter innerorts und 2 Metern außerorts beim Überholen von Radfahrern.
• Auf Schutzstreifen für Radfahrer (rote Markierungen) gilt absolutes Halteverbot.
• Lkws über 3,5 Tonnen dürfen nach rechts nur noch mit Schrittgeschwindigkeit abbiegen.
• Für Radfahrer wird ein Grünpfeil eingeführt, der ausschließlich für sie gilt.
• Die Kommunen können Fahrradzonen einrichten.

Parallel dazu werden die einschlägigen Bußgelder drastisch erhöht. So kostet das Halten auf einem Schutzstreifen für Radfahrer künftig 100 Euro, das gilt auch für das Halten in zweiter Reihe. Auch die Geldbußen für das Parken auf Geh- und Radwegen wird drastisch erhöht. Bis zu 100 Euro kann das ebenfalls künftig kosten (statt bisher 15 Euro). Das hat wohl zur Folge, dass man künftig auch wegen „einfacher“ Parkverstöße Punkte in Flensburg kriegen kann, sofern das Bußgeld die Eintragungsgrenze von 60 Euro erreicht.

Die Regierung will den Bußgeldkatalog bis Frühjahr anpassen.

Schmerzensgeld nahe der Millionengrenze

Die deutschen Gerichte stehen seit jeher im Ruf, bei Schmerzensgeldern eher sparsam zu sein. Das scheint sich aber teilweise zu ändern. Das Landgericht Gießen hält in einem aktuellen Urteil zum Beispiel ein Schmerzensgeld von 800.000 Euro für angemessen – wenn auch in einem wirklich schrecklichen Fall.

Bei der Operation eines 17-Jährigen waren die Schläuche des Beatmungsgeräts nicht richtig angeschlossen. Der Patient war 25 Minuten nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Er erlitt unter anderem einen schweren Hirnschaden und wird, wie es das Gericht formuliert, nie wieder „zu einem selbstbestimmten Leben“ in der Lage sein.

Die Klinik hatte freiwillig 500.000 Euro gezahlt, der Kläger verlangte eine Million Euro. Seine Entscheidung für ein bemerkenswert hohes Schmerzensgeld begründet das Gericht auch mit dem jungen Alter des Betroffenen. Außerdem würdigt es erschwerend, dass Ursache für die Schäden eine fehlerhafte Bedienung des Beatmungsgeräts gewesen sei. Dabei handele es sich – anders als bei vielen anderen Behandlungsfehlern – um ein voll beherrschbares Risiko (Aktenzeichen 5 O 376/18).

Mobilfunkanbieter darf nicht mit Sperre drohen

Mobilfunkanbieter dürfen Kunden nicht mit einer Sperrung des Anschlusses drohen, wenn es Streit über die Höhe von Telefongebühren gibt. Eine derartige Drohung ist auch wettbewerbswidrig und kann abgemahnt werden, hat jetzt das Oberlandesgericht Frankfurt entschieden.

In dem Fall ging es um 1.300 Euro „Roaminggebühren“, die ein Kunde bezahlen sollte. Zu Unrecht, meinte dieser. Der Anbieter verzichtete von sich aus auf 50 % der Kosten, den Rest machte er aber nachdrücklich geltend, unter anderem drohte er mit einer Sperrung des Anschlusses.

Darin sieht das Oberlandesgericht eine „aggressive“ Geschäftspraktik und damit einen Wettbewerbsverstoß. Nutzer seien heute auf ihr Mobiltelefon angewiesen, deshalb dürfe ihnen nicht wahrheitswidrig vorgegaukelt werden, eine Anschlusssperre sei zulässig.

Außerdem, so das Gericht, hätten die juristischen Voraussetzungen für eine Sperre auch definitiv nicht vorgelegen. Die Sperre sei nämlich nur zulässig, wenn der Rückstand mehr als 75 Euro betrage. Dabei werde aber der streitige Betrag (hier die noch offenen 650 Euro angebliche Roaminggebühren) nicht eingerechnet, da der Kunde die Rechtmäßigkeit der Rechnung nachvollziehbar angezweifelt habe. Die Zweifel ergäben sich normalerweise schon aus der ungewöhnlichen Höhe der Einzelrechnung. Besondere Begründungen könne der Kunde normalerweise müsse der Kunde nicht liefern, ihm fehle nämlich der Zugriff auf die Erfassungsdaten (Aktenzeichen 6 U 147/18).

Vorformulierte Ausflüchte

Die Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei ist nicht immer ganz so reibungslos, wie mal als Außenstehender denken könnte.

Eine gewisse Zurückhaltung des zuständigen Polizeibeamten bei der Erledigung seiner Aufgaben brachte jetzt zum Beispiel eine Staatsanwältin in Rage. Die Staatsanwältin hatte angeordnet, einen mutmaßlich Geschädigten als Zeugen zu vernehmen. Dieser sitzt derzeit eine Haftstrafe ab, was dann wohl bedeutet hätte, dass der Polizeibeamte den Betroffenen aufsuchen muss.

Stattdessen schickte der Beamte dem Zeugen einen Vordruck, auf dem dieser ankreuzen konnte, ob er gar nicht mit der Polizei reden will, ob er eine schriftliche Aussage machen will oder ob er einen Rechtsanwalt beauftragen wird. Das Ganze passt nicht mehr so ganz zur neuen Rechtslage, nach der Zeugen bei der Polizei grundsätzlich zu einer Aussage verpflichtet sind. Die Möglichkeiten „will nichts sagen“ und „beauftrage einen Rechtsanwalt“ sind, sagen wir es mal vorsichtig, jedenfalls nicht mehr sonderlich up to date, wenn sie es denn jemals waren.

Die offenkundige Arbeitsverweigerung quittierte die Staatsanwältin mit folgendem Schreiben:

… wird die Akte zurückgesandt mit dem Auftrag, den Zeugen in der JVA aufzusuchen (statt ihm einen unpassenden Fragebogen mit schon vorformulierten Ausflüchten präsentieren zu lassen), ihn auf seine Zeugenpflicht aufmerksam zu machen, ihn darauf hinzuweisen, dass im Weigerungsfall Ordnungsgeld und Ordnungshaft drohen, und ihn zu vernehmen.

Ich hätte es allerdings lieber gesehen, wäre wäre der Polizist mit seiner laxen Einstellung durchgekommen. Der Zeuge hat dann tatsächlich ausgesagt – und meinen Mandanten belastet.

Anwalt unerwünscht

Es wäre ja doch etwas hoch gegriffen, wenn ich behaupten würde, ich könnte jeden Mandanten vor dem Knast bewahren. Ist natürlich nicht der Fall. Von daher war es jetzt auch nichts Ungewöhnliches, dass mich der Hilferuf der Eltern eines früheren Mandanten erreichte.

Ihr Sohn sitzt derzeit seine Haftstrafe ab, gut anderthalb Jahre hat er schon geschafft. Aber irgendwie scheint es jetzt Vollzugsprobleme zu geben, deshalb sollte ich ihren Sohn unbedingt mal aufsuchen. Das habe ich heute auch gemacht. Weit gekommen bin ich allerdings nicht.

Am Besucherschalter erfuhr ich, dass der Mandant nicht mit mir sprechen möchte. Der freundliche Beamte ließ sogar noch mal auf der Abteilung nachhhören. Aber dort hieß es klipp und klar: Herr M. möchte nicht mit dem Anwalt reden. An freier Zeit dürfte es ja kaum liegen. Aber gut, ich kann mich einem erwachsenen Mann nicht aufdrängen. Vielleicht hat Herr M. ja mittlerweile auch einen anderen Anwalt beauftragt und legt deshalb momentan keinen Wert auf meine Unterstützung. Aber davon wussten die Eltern nichts. Auch im Register der JVA ist kein neuer Anwalt eingetragen, wie ich in Erfahrung bringen konnte.

Ich habe Herrn M. einen Brief geschrieben mit einem kleinen Formular, das er, sollte er seine Meinung ändern, nur an mich zurücksenden muss. Freiumschlag liegt auch bei. Vielleicht hatte Herr M. auch nur einen schlechten Tag, dann fahre ich halt noch mal hin. Ansonsten muss ich mich jetzt auch nicht sonderlich grämen. Denn immerhin habe ich die Vorkasse für den Besuch nicht vergessen.

Hartz IV: Kürzung nur bis 30 Prozent erlaubt

Das Bundesverfassungsgericht hat heute die Sanktionen beim Bezug von Hartz IV neu geordnet. In einem Urteil legt das Gericht eine Obergrenze von 30 Prozent an Kürzungen fest, sofern Leistungsbezieher ihren Pflichten nicht nachkommen. Die bisherigen Kürzungen von bis zu 60 Prozent sind – zumindest bis zu einer gesetzlichen Neuregelung – nicht mehr zulässig.

Außerdem kippen die Richter den Grundsatz, dass eine Sanktion immer für mindestens 3 Monate verhängt wird. Vielmehr müssen die Behörden nun künftig prüfen, ob auch eine kürzere Sperrzeit reicht, zum Beispiel wenn der Leistungsempfänger das Problem beseitigt oder sich zumindest glaubhaft mitwirkungsbereit erklärt.

Die Vorgaben gelten nur für Langzeitarbeitslose über 25 Jahren. Sanktionen für jüngere Leistungsbezieher waren nicht Thema das Verfahrens. Aber die vom Gericht aufgestellten Grundsätze dürften auch hier gelten. Einzelheiten stehen in einer Pressemitteilung des Gerichts.

An der Untergrenze

Eine Verständigung im Strafverfahren (Deal) ist zulässig. Aber es gibt Regeln, die einzuhalten sind. Eine davon lautet: Das Gericht darf für den Fall eines glaubwürdigen Geständnisses keine Zusage über eine konkrete Strafe machen. Sondern es muss ein Strafrahmen genannt werden. Innerhalb dieses Korridors, der halt Spielraum lässt, findet das Gericht dann sein konkretes Urteil.

Normalerweise ist es so, dass Gerichte bei ihrem Urteil zwar im unteren Bereich des Rahmens bleiben, aber die Grenze halt auch nicht bis ganz nach unten austesten. So hatte ich eigentlich auch nicht damit gerechnet, dass in einem Strafverfahren nun folgende Freiheitsstrafe rauskommt: 4 Jahre und 10 Monate.

Genau dies war nämlich die Untergrenze gemäß der Verständigung, die mein Mandant mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft getroffen hatte. Die Obergrenze lautete auf 5 Jahre und 9 Monate. Es war also eher mit 5 Jahren zu rechnen. Um so schöner natürlich die Abweichung nach unten.

Ich war jedenfalls positiv überrascht, der Mandant ebenso. Weiter durfte er sich darüber freuen, dass das Gericht seine Auslieferungshaft in in Portugal im Verhältnis 2:1 anrechnet. Dort hat der Mandant am eigenen Leib erfahren, wie flexibel die Europäische Menschenrechtskonvention mitunter gehandhabt wird. Aber das wird vielleicht mal eine gesonderte Geschichte.

55 Euro

Erfreuliche Post vom Amtsgericht:

Dass der Richter das Bußgeld auf 55 Euro reduzieren möchte, hat seinen guten Grund. Punkte in Flensburg gibt es erst ab einem Bußgeld von 60 Euro. Der Mandant wollte natürlich nur eines: den Punkt vermeiden. Das hat er nach meiner Erfahrung mit 95 Prozent aller Autofahrer gemeinsam, die gegen einen Bußgeldbescheid Einspruch einlegen.

Eine Lösung, an die oft keiner denkt

Verhandlungen geraten mitunter in eine Sackgasse. Keine Seite sieht mehr eine Möglichkeit, sich zu bewegen. Das gilt – natürlich – auch im Strafprozess. Und auch hier ist es wichtig, mögliche Exit-Strategien zu kennen – um vielleicht doch wieder Bewegung in die Sache zu bringen.

In kleineren Fällen, in denen „nur“ eine Geldstrafe im Raum steht, gibt es zum Beispiel das Rechtsinstitut der „Verwarnung mit Strafvorbehalt“ (§ 59 StGB). Das ist an sich eine schöne Sache: Wenn es für eine Einstellung wegen geringer Schuld nicht reicht, aber auch eine Geldstrafe nicht sein muss, kann die Verhängung der Geldstrafe als solche zur Bewährung ausgesetzt werden. Die Strafe wird also nur wirksam, wenn der Angeklagte innerhalb der Bewährungszeit, die ein bis maximal zwei Jahre beträgt, sich erneut etwas zuschulden kommen lässt.

Der große Vorteil liegt insbesondere darin, dass die Verwarnung mit Strafvorbehalt nicht im Strafregisterauszug auftaucht (jedenfalls, wenn der Betroffene keine Vorbelastungen hat). Er behält also nach außen eine reine Weste, was ja heutzutage gar nicht überbewertet werden kann.

Seltsamerweise haben Richter und auch Staatsanwälte das Zwischending zwischen Einstellung und Strafe fast nie auf dem Schirm. Jedenfalls kann ich mich momentan nur an einen Fall erinnern, in dem der Richter eine Verwarnung mit Strafvorbehalt vorschlug. Wobei ich genau das ebenfalls gerade anregen wollte. Es ist also immer am Verteidiger oder auch am Angeklagten selbst, diesen Lösungsansatz ins Spiel zu bringen.

Vor kurzem habe ich in München mit der Idee eine ziemlich verfahrene Situation aufgelöst. Die Richterin war zuerst skeptisch, ließ sich dann aber davon überzeugen, dass man doch von den Möglichkeiten des Gesetzes auch Gebrauch machen sollte, wenn es sich anbietet. Auch der Staatsanwalt konnte seinem Credo treu bleiben, dass er einer Einstellung wegen geringer Schuld nie und nimmer zustimmt.

Am Ende waren alle froh, auch wenn die Sache sich dann noch eine knappe Stunde in die Länge zog. Die Richterin musste erst mal die nötigen Formulare suchen und ausdrucken, weil sie offensichtlich gar nicht wusste, wie man eine Verwarnung mit Strafvorbehalt korrekt formuliert.

Wenn ihr mal Ärger habt, denkt vielleicht an diese Möglichkeit. Und stupst euren Anwalt an, die Idee wird ihm sicher gefallen.